Mittwoch, 2. Oktober 2013

Kommentar Kim: Über die Komplexität der Welt

Wenn ich versuche, den Zeitgeist in dem ich gerade lebe zu beschreiben, so würde ich ihn mit dem Wort Komplexität wohl am besten fassen. Wir Menschen, so scheint es, stehen an der Spitze unserer Entwicklung und müssen gleichzeitig mit der Unmöglichkeit kämpfen, all die Erkenntnisse unserer Zeit zu verarbeiten und mit ihnen zu leben.
Die Naturwissenschaften haben uns durch die Entwicklung von Technik und durch die Ergebnisse ihrer Untersuchungen ein unüberschaubares Maß an Wissen ermöglicht, zu dem wir theoretisch alle Zugang haben.
Wir leben im Zeitalter der Globalisierung, die viele kleine Teile miteinder vernetzt. Durch Medien, Zeitung, Fernsehen, durch moderne Kommunikation, durch Internet und Telefon, durch Transportmöglichkeiten mit denen wir in kürzester Zeit um den Globus reisen können, durch all das können wir, so scheint es, die Welt überblicken. Die Welt im Großen und Ganzen sehen. 



Wir beobachten im Fernsehen die Gräultaten in Syrien, wir chatten mit Freunden in den USA, wir sehen Livestreams von Demonstrationen in Istanbul. Wir lesen, dass die Neurobiologie festgestellt hat, dass es letztendlich keine freien Gedanken und Ideen gibt, denn alle geistigen Zustände basieren letztendlich auf chemischen Prozessen im Gehirn. Wir hören von der Wirtschaftskrise, von Krieg und Hunger, wir lesen, dass das Universum 12 Milliarden Jahre alt ist und der Mensch nur einen minimalen Augenblick davon existiert. Auf der Straße begegnen uns die unterschiedlichsten Lebenskonzepte, Väter die Kinderwägen schieben, Karrierefrauen mit I-Phone am Ohr, Yogimeister die von Erleuchtung sprechen, Motzverkäufer vor dem Supermarkt. Man spricht von Werten wie Ehre, Religion und Freiheit und Selbstbestimmung. In der Schule lernen wir, dass der Mensch vom Affen abstammt und entscheiden zwischen Ethik und Religionsunterricht. Jeder beliebige Begriff, den wir bei Google eintippen, liefert uns in Sekundenschnelle eine Erklärung. Wir können so viel wissen und hören so viel.

Und ich bin ich ein Mensch mit einem Alltag in Berlin. Ich gehe zur Uni, ich treffe Freunde, ich blättere in Zeitschriften um mich über belanglosen Tratsch zu amüsieren. Ich schaue jeden Abend die Tagesschau, habe vage Pläne für die Zukunft, will einen Job mit Prestige und Geld verdienen, vielleicht eine Familie gründen, irgendwie die Welt verbessern. Ich stehe jeden Tag auf, trinke Fairtrade Kaffee und Biomilch aus Rücksicht auf meine Umwelt, ich kaufe Essen im Discounter um Geld zu sparen, ich sitze im Park und genieße die Sonne, ich treibe Sport um nicht zuzunehmen, ich diskutiere in der Uni über große Weltprobleme, ich schaue Filme über Israel und sehe mir im Kino Komödien an. Das ist meine Lebenswirklichkeit.



Die Welt, in der ich lebe, scheint sich irgendwie in zwei Extreme aufzuteilen. Es gibt die große Welt da draußen, mit dem Wissen der Naturwissenschaften, mit Kriegen und Debatten, der philosophischen Erkenntnis dass Gott tot und Sinn höchstens subjektiv ist. Und es gibt meinen kleinen Alltag, in dem mir wichtig ist, was ich heute Abend esse, ob ich auf einer Party jemanden kennen lerne, was ich morgens anziehe und wann ich die nächste Hausarbeit endlich abgeben kann.
Wie könnte man diese großen Extreme besser auffassen als mit dem Wort Komplexität?
Die Welt ist komplex und weil wir all das Wissen, zu dem wir irgendwie Zugang haben, nicht verarbeiten und unmöglich alles selbst verstehen können, verlassen wir uns auf die Worte von Experten. Experten haben die Eigenschaft, vermeintlich verworrene Dinge als bündige Fakten in abgeschlossenen Einheiten zu präsentieren. Die Wirtschaftskrise, der Klimawandel, die Wirkung vom Gehirn auf unsere geistigen Zustände, Kriegsberichte aus Afrika, die Entstehung des Universums. Überall liefern uns Experten scheinbar abgeschlossene und vollständige Erklärungen. 
Sobald man ein bisschen genauer hinsieht, erkennt man, dass die großen Fragen bleiben. Alle Theorien weisen Lücken auf – je komplizierter die Begriffe, desto verworrener die Bedeutungsmasse, auf die sie hinweisen. Letztendlich also viel Schall und Rauch. Der Klimawandel ist eigentlich nur ein Diskurs, Kriegsberichte stellen bloß subjektive Erfahrungen einzelner Reporter da, Statistiken basieren auf Stichproben geringer Anzahlen von Menschen, wir können bloß Korrelationen zwischen Emotionen und Gehirnströmen messen, die Evolutionstheorie weist Lücken im Sprung vom Affen zum Menschen auf, die Urknalltheorie basiert auf Grundannahmen die sich letztendlich nicht beweisen lassen, es gibt Placeboeffekte, Nahtoderfahrungen und Selbstheilungsprozesse die niemand versteht. 


Und auch mein eigenes kleines Leben ist komplex und widersprüchlich. Meine Persönlichkeit wandelt sich mit den Leuten, die ich treffe, ich sehe einen Film und ändere meine Meinung zum Fleischkonsum, ich will eigentlich Künstler sein und arbeite in einem Büro am Computer, wenn die Sonne scheint bin ich glücklich und zufrieden, wenn es grau wird und beginnt zu regnen werde ich trübsinnig und einsam, ich will eigentlich Familie aber doch frei und selbstständig sein, ich vermisse meine Mutter aber werde wütend, wenn wir zu lange telefonieren, mich inspiriert die Natur und ich bin ständig in der Stadt, ich weiß, dass Geld nicht glücklich macht und verfasse Bewerbungen für besser bezahlte Jobs.
Was soll das alles? Ich sehe diese Wirklichkeit, in der ich lebe, ich sitze hier und versuche, vor meinem inneren Auge ein Bild zu entwerfen von der Welt, in der ich bin. Angestrengt bemüht, der Tiefe meiner Gedanken zu folgen und ein klares Bild zu zeichnen rauscht die Zeit, und ich weiß schon, dass ich bald abschweifen werde, um mich anderen Dingen zuzuwenden, dem Sportkurs am Abend und dem Treffen mit meiner Freundin, unabhängig davon, ob ich mit meinen Überlegungen gerade weiterkomme oder nicht. In eben diesem Moment, jetzt also, in dem ich mir der Komplexität meiner Lebenswirklichkeit für einen Augenblick so klar bewusst bin, versuche ich, ganz scharf darüber nachzudenken, ob das alles irgendeinen Sinn ergen kann. Irgendeine Bedeutung, eine Erklärung, Begründung, etwas Höheres das mir all diese Widersprüche, dieses wirre Bild erklärt. Eine Antwort auf alle Fragen.
Natürlich finde ich keine Antwort. Ich habe keine plötzliche Gotteserfahrung, spüre keine Eingebung, keine mystische Kraft die mir irgendetwas sagt. Ich schaue aus dem Fenster, draußen scheint die Abendsonne und wirft ein warmes Licht gegen die Häuserwände. Ein schönes Bild, ein gutes Gefühl. Mir kommt ein neuer Gedanke. So unbefriedigend es ist, keine Antwort zu kennen, keinen Sinn zu sehen, keine Erklärung für diese unüberschaubaren Wirrungen, den vielen Rätseln der Natur und der Psyche – ist das nicht auch ein schöner Gedanke? Bei all dem Wirrsal; ist es nicht immerhin nett, zu wissen, dass selbst die großen Erklärungen begrenzt sind? Dass die Naturwissenschaften die Welt und uns Menschen nicht vollständig erklären können? Dass die Welt und wir Menschen in ihr komplex sind, rätselhaft und undurchschaubar... Lässt diese offene Lücke nicht auch Platz für eine offene Möglichkeit? 


Denn was wäre die Alternative? Ein vollständig erklärendes Weltbild das alle Fragen löst? Eine Welt in der es keine Fragen mehr gibt? Aber offene Fragen lassen Antworten offen. Das Denken der Möglichkeit also, dass es eine Bedeutung gibt, einen Sinn, der über all das hinaus geht was wir erkennen und der angesichts der ganzen Komplexität der Welt auch selbst so komplex und ungreifbar sein muss, dass ich ihn hier und jetzt mit meinem Verstand nicht begreifen kann. Die undurschaubare Rätselhaftigkeit der Welt erweckt in mir einen Funken von Hoffnung auf Sinn.

Mittwoch, 10. Juli 2013

Kommentar Ulli: Terror! Das lustige Rätselspiel

Wer bin ich? 

Vermummt in schwarze Tücher blicke ich düster von der Titelseite des Spiegels in die Welt, die ich am liebsten brennen sehen würde. Schwarz ist der Hintergrund des Titelbildes. Irgendetwas unbestimmtes scheine ich mit dem Islam zu tun zu haben.


http://madubesbrainpot.files.wordpress.com/2011/08/pissed_off_terrorist_by_wescoast1.jpg
Picture credit: http://blogs.jamaicans.com/yaadinfo/files/2011/07/Pissed_Off_Terrorist_by_Wescoast.jpg Quelle: http://madubesbrainpot.wordpress.com/

Genau!! Ich bins. Der Terrorist an- und für-sich und als solcher. Natürlich ein Islamist. Ein Schreckgespenst. Die größte Gefahr des 21. Jahrhunderts.
 

Damit habe ich es immerhin geschafft, den Sozialisten aus dem 20. Jahrhundert abzulösen.

Heutzutage fließt das Geld des Westens nicht mehr in Star Wars-Raketenabwehrprogramme um sich vor dem Ostblock zu schützen, sondern in die Kampfjets der „Operation Enduring Freedom“ zur Vernichtung des Terrorismus.

Oder – noch besser – in Drohnen, die von der gemütlichen Basis aus mit dem Joystick zu bedienen sind. Armchair Terrorbekämpfung, also sozusagen Computerspielen. Das fällt dann auch gar nicht so auf. (Oder zumindest hält sich der Protest in Grenzen, wenns ab und zu mal nen Falschen trifft, denn die eigenen Leute fühlen sich am Joystick ja wohl.)

http://chinamobiles.org/downloads/joystick_J8e.jpg


(Zum Glück fällt so etwas nicht in die Definition des Terrors, sonst müsste man ja alles nochmal neu überdenken.)

Doch zurück zu mir. 
Ich bin sicherlich kein sonderlich sympathischer Zeitgenosse und man sollte die Gefahr, die von mir ausgeht, nicht verharmlosen. Dennoch: Die Wahrscheinlichkeit, vom Blitz erschlagen zu werden, übersteigt diejenige, von mir erwischt zu werden, für die allermeisten Regionen der Welt wohl bei weitem. Also könnte man auch - statt in die Terrorbekämpfung - ein paar Milliarden mehr in Blitzableiter und ähnliches investieren, oder? Nein, das klingt irgendwie absurd. Blitze sind ja auch nicht überall in den Medien.



Irgendwie wird man also den Gedanken nicht los, dass sich hinter dem omnipräsenten Bild des Terroristen gewisse Interessen verbergen. Denn dadurch kann faktisch jede Aktion gerechtfertigt werden. Schließlich gibt es eins, das alle nicht wollen: Dass ich irgendwo an die Macht komme. Da ist sich die Weltgemeinschaft wenigstens mal so gut wie einig.

Beim Ostblock war sich der Westen auch einig. Das war schließlich auch ein 1984-Szenario. Ein Überwachungsstaat, in dem endlos Datenmaterial gesammelt und Gespräche mitgehört wurden.

http://euro-med.dk/billeder/billedersurveillance-2dcam-2d21.jpg
Quelle:http://euro-med.dk/?p=13077

Heute ist alles anders. Jetzt ist der Westen der Überwachungsstaat. 
Warum? Richtig: zur Terrorbekämpfung.





Dienstag, 9. Juli 2013

Streifzug Kim: Das Netz

Oscar hat sein Handy in die Tonne gekloppt.

 

Als wir uns an einem sonnigen Mittwochnachmittag mit Ginny und Herbert am Maibachufer zum Spazierengehen treffen, fallen mir sofort die glasigen Augen meines Freundes im Anzug auf, die voller Unruhe hin und her zucken. Während wir den sonnenbeleuchteten Landwehrkanal entlang schlendern bleibt er ständig stehen und blickt sich verstohlen um. Als Ginny ihr Handy aus der Tasche kramt, schreckt er unmerklich zusammen und beobachtet das alte Nokiamodell so argwöhnisch, als wäre es ein besonders gefährliches Ungeziefer.

Oscar, kann ich mir mal dein I-Phone ausliehen?”, fragt Ginny im Laufen, während wir uns nach einem freien Plätzchen auf der Wiese umschauen. “Ich will nachschauen wann später meine Bahn fährt...”
Oscar schüttelt den Kopf. “Ich hab mein I-Phone weggeschmissen.”
Was?” Ginny, Herbert und ich bleiben wie angewurzelt stehen.


Weggeschmissen? Dein teures Handy?”, ruft Herbert ungläubig. “Warum das denn?”
Habt ihr nicht von dieser ganzen Überwachungsgeschichte gehört? Snowden, NSA, Geheimdienste... Wir werden doch ausspioniert, die ganze Zeit!“ Oscar lässt resigniert die Schultern hängen und blinzelt ins grelle Sonnenlicht. „Das habt ihr ja wohl mitbekommen?“
Ginny, Herbert und ich nicken bekräftigend.
Ich kann das gar nicht fassen“, sagt Oscar verstört. „All unsere Technik wird überwacht. Handys, Emails, Facebook...“

Ginny zuckt trocken die Schultern. “Das sag ich doch schon immer, dass die verdammten Imperialisten versuchen, die ganze Welt zu kontrollieren. Der freiheitsliebende Westen – ja, ja – nur er selbst darf natürlich aushorchen und schnüffeln wie er will.”

Und du hast wirklich dein Handy weggeschmissen?”, frage ich ungläubig. Oscar ohne Handy finde ich etwa so schwer vorstellbar wie Ginny in Anzug und mit Aktentasche.

All unsere Daten werden abgefangen!” Oscar starrt mich eindringlich an; unter seinen Augen schimmern dunkle Ringe, so als hätte er einige Nächte lang sehr schlecht geschlafen. “Weisst du überhaupt, was das bedeutet? Ich bin doch die ganze Zeit mit meinem I-Phone verbunden, ich kommuniziere nur übers Internet! Also wird alles, was ich tue, an irgendeine Stelle in die Staaten weitergeleitet, die alles kontrolliert. Alles.” Er schaudert. “Das ist doch, das ist doch...” Ihm scheinen die Worte zu fehlen. “Das ist doch unvorstellbar. So kann man doch nicht leben!”


Mich wundert wirklich, dass dich das so überrascht”, meint Ginny. “Die ganze Welt tut so, als hätte sie geglaubt die Amis wären die großen Freiheitsschützer. Und obwohl alle ein bisschen empört sind, kuschen sie doch immernoch vor Obama. Niemand bietet Snowden Asyl an, niemand erwartet, dass sich wirklich etwas ändert. Was die USA und der Westen macht, das muss schon irgendwie okay sein.“ Sie fischt etwas Tabbak aus ihrer Tasche und dreht sich eine Zigarette. „Wenigstens gibt es ein paar wenige Länder, die sich nicht vom Westen einschüchtern lassen. Russland, Venezuela...“

Denen ist Überwachung natürlich ein totales Fremdwort“, sagt Oscar sarkastisch. „Man kann der gesamten Welt nicht mehr trauen.“

Herbert schnaubt. “Ich verstehe die ganze Aufregung überhaupt nicht. Was ist denn so schrecklich daran, wenn ein paar Emails oder Telefonate von diesen Geheimdiensten abgehört werden? Die wollen doch nur ihre Bürger beschützen. Wer nichts zu verstecken hat, der hat doch auch nichts zu befürchten.”

Ach ja”, fährt Ginny ihr verärgert an, “und wer hat die Macht zu bestimmen, wer verdächtig ist? Die Superweltpolizei oder was? Und die hat natürlich überhaupt kein Eigeninteresse, hä?”

Es geht doch darum, vor dem Terrorismus zu schützen! Ich werde lieber ein bisschen überwacht, als Angst haben zu müssen, auf dem Potsdamer Platz von einer Bombe in die Luft gejagt zu werden. Es ist mir ehrlich gesagt schnurzpiepegal wenn jemand, den ich gar nicht kenne, meine Emails liest. Da steht doch nichts Geheimes drin.”
Tss..” Ginny pfeift durch die Zähne.

Wir lassen uns auf der Wiese am Wasser nieder; Oscar inspiziert ein paar Zigarettenstummel im Gras, bevor er sich setzt.
Das mit dem Terrorismus ist doch nur ein billiger Trick um die ganze Spionage zu rechtfertigen”, sagt Ginny. „Angst wirkt eben bei den Leuten.”

Die Freiheit der Bürger ist das allerhöchste Gut”, murmelt Oscar und starrt aufs vorbeifließende Wasser des Landwehrkanals. “Sie ist mit allen Mitteln zu schützen. Alles, was wir tun, kann zurückverfolgt werden. Habt ihr euch das mal ausgemalt?“

Vor meinem inneren Auge taucht das Bild eines riesigen Spinnennetzes auf, dessen unsichtbare Fäden sich durch die ganze Welt gesponnen haben. Wer ist diese gigantische Spinne, die da spinnt? Und wer sind die Fliegen, die sie in ihr Netz wickelt? 


„Dann gibt es überall geheime Fäden und Netze, die wir nicht sehen?“, frage ich.

„Überall“, murmelt Oscar resigniert. „Die Welt ist nicht so, wie sie für uns aussieht.“

„Und wer ist die Spinne?“

„Was für eine Spinne?“, fragt Herbert irritiert.

„Die Supermächte“, sagt Ginny im selben Moment. Sie stößt Rauch aus ihrem Mund. „Die USA und der Westen, die versuchen, die ganze Welt zu kontrollieren.“

Die USA, der Westen?“ Frage mich und überlege, wen genau ich mir darunter vorstellen kann. Obama? Angela Merkel? „Und warum wollen die uns kontrollieren?“

„Weil sie Macht haben wollen, natürlich. Macht über die ganze Welt.“

„Dann ist es wirklich eine einzige riesige Spinne, die nach ihrem Plan ihr Netz wickelt?“

Nachdenklich starre ich aufs grünliche Wasser, das in der Sonne schimmert. „Meint ihr nicht, es sind vielleicht viele kleine Spinnen, die alle einen Teil vom Netz gesponnen haben? Ohne zu wissen, was die anderen tun? Was die großen Konsequenzen ihres eigenen kleinen Handelnds sind? Und plötzlich spannen sich die Fäden über die ganze Welt. Nur, niemand hat das eigenständig geplant. Niemand ist verantwortlich. Ich glaube, da hat sich ein System verselbstständigt.“

„Wie im Jobcenter“, wirft Herbert ein. „da macht auch jeder einen kleinen Teil der Arbeit und niemand hat den Gesamtüberblick.“

Auf jeden Fall kann ja niemand diese ganzen Datenmengen auswerten“, sagt Oscar. „Das sind ja viel zu viele. Vielleicht war es nicht von einem Menschen geplant, uns alle zu kontrollieren. Aber dass Leute theoreisch auf alle unsere Daten Zugriff haben und sie systematisch abhören, das ist doch fatal! Es geht ums Prinzip der Freiheit!”

Ginny nickt zustimmend. Big Brother is watching you. Wir sind nicht frei.”

Wirklich nie?”, frage ich und muss an meinen Freund Savinda denken, der weder ein Handy noch einen Computer hat. “Was ist denn, wenn man gar keine Technik benutzt? Im Wald zum Beispiel, da kann einen niemand überwachen, oder?”


Stimmt”, räumt Oscar ein, “es hängt natürlich alles an der Technik. Deshalb werde ich auch alles einstellen, was überwacht wird. Googlemail, Facebook, Twitter... das wird sehr hart.“ Seine Stimme bekommt einen leicht dramatischen Tonfall. „Ich werde von der ganzen Welt abgeschnitten sein. Meine Geschäftskunden, meine Kollegen, meine Freunde, Veranstaltungen… finito. Ich werde ein einsamer Mann werden.“

Also heißt das, wieder weg von der Technik?”, frage ich.
Oscar nickt. “Wieder weg von der Technik.”
Back to nature”, sagt Ginny halb scherzend, halb ernst.

Herbert wirft den beiden einen kopfschüttelnden Blick zu. “Als ob heute noch irgendetwas ohne Technik funktionieren würde. Das Jobcenter würde sofort zusammenbrechen ohne Computer und Internet, das kann ich euch aber sagen.”

Auf dem Heimweg muss ich daran denken, was Tante Herda neulich gesagt hat: die Welt ist aus den Fugen geraten. Vielleicht hat sie Recht. Zu Hause angekommen unterschreibe ich im Internet schnell noch eine Petition die verlangt, dass man Snowden Asyl gewährt. Eine Woche später hat sich Oscar ein neues I-Phone gekauft. Später machen zusammen mit Savinda einen langen Spaziergang durch den Wald.




Dienstag, 25. Juni 2013

Kurzstatement Ulli: Kommunikationsmuster - einfach mal rauszoomen?

Alltag:

Das ist so. Es muss so sein. Aber dies darf nicht sein. Das ginge ja auch gar nicht, die Strukturen lassen es nicht zu. Und das ist auch gut so, sonst gäbe es ja gar keine Anhaltspunkte mehr.

Nur, wenn ich genau das habe, kann es mir gut gehen. Ich habe schließlich eine genaue Vorstellung, wo es langgehen soll. Wenn mein Mitbewohner nicht endlich die Küche aufräumt, kann ich nicht zufrieden sein.
Nur, wenn das Gespräch so verläuft, wie es mir vorschwebt, ist es ein gutes Gespräch.
Ich höre nur halb zu, will ja auch selbst zum Zug kommen und zeigen, wie ich das alles sehe. Was der andere sagt, kommt mir irgendwie fremd vor. Ich weiß schon vorher, was ich selbst denke.

Solange die Politik so ist, wie sie ist, bin ich dagegen. Ich habe meine eigene Meinung. Ist nur schwer, sie mit anderen zu teilen, die nicht die selbe Meinung haben. Darum tue ich das auch nicht. Ich diskutiere am liebsten mit Freunden. Andere Sichtweisen sind mir fremd oder ich kenne sie gar nicht, man bleibt halt in seinen Kreisen.

Woher habe ich meine Überzeugungen?

Aus der Erfahrung, es hat sich bewährt. Und von anderen, die es auch so sehen. So sind schließlich auch die Normen und Gesetze, das hat Tradition oder es ist zumindest im Trend. Außerdem wusste ich das schon immer.

Und ich lese schließlich auch Zeitung. Und zwar nur objektive Zeitung, die meine politische Meinung vertritt. Und letztendlich ist das auch alles wissenschaftlich gedeckt. Studien besagen, dass es sich so verhält. Und Studien sind schließlich eine absolute Letztbegründung, wie auch immer sie entstanden sein mögen.

Die Wissenschaft hat das festgestellt und es ist von Experten bestätigt. Experten, die so ein kompliziertes abgegrenztes Feld beherrschen, dass ich ihr Fachchinesisch gar nicht verstehen kann. Das macht aber nichts, ich profitiere ja auch so von ihnen. Endlich gibt’s in diesen unsicheren Zeiten mal wieder eine absolute Wahrheit. An Gott glauben war gestern.
Zum Glück gibt es auch zu jedem Experten einen Gegenexperten, da kann ich mir dann den Passenden aussuchen. Entweder, ich lasse mir beweisen, dass der Euro und die ganze EU dem Untergang gewidmet ist oder aber, ich habe todsichere Belege für ewiges Wachstum. (Oder läuft das ja dann doch auf das selbe hinaus?)

Demokratie auf Sparflamme also. Für alles andere fehlt ja auch das Geld.
Lieber den vertrauen, die ein Dr. im Namen haben und es wirklich wissen und methodisch einwandfrei ausgebildet sind.
Die eigentliche Realität liegt nämlich immer hinter den Tatsachen, die ist so einem Otto Normalverbraucher wie mir gar nicht zugänglich. (Zum Beispiel ist das, was ich für meine Persönlichkeit halte, nur ein Haufen von Aktionspotentialen in meinem Gehirn.)

Manchmal kommt es mir aber irgendwie so vor, als dürfte man sich ab und zu ein bisschen Selbstvertrauen zuschreiben. Man könnte auch mal wieder auf seine unwissenschaftliche Intuition zurückgreifen und schauen, was für Muster sich immer wieder von neuem abspielen. Bei sich selbst und um sich herum. Was die ganze Zeit vor der eigenen Nase passiert, während man mit Gedanken Strukturen einzementiert und die Komplexität der Erfahrung in enge Modelle presst.
Warum ist das so? Es muss so sein.

Donnerstag, 20. Juni 2013

Streifzug Kim: Tante Herda versteht die Welt nicht mehr


"Ich verstehe die Welt nicht mehr", sagt Tante Herda.

Wir sitzen im Cafe Bilderbuch und beobachten ein Mädchen, das vor einem kleinen aufklappbaren Computer sitzt und mit leiser Stimme auf seinen Bildschirm einspricht. Darauf ist ein junger Mann zu sehen, der offenbar vor einer Kamera steht und zu dem Mädchen spricht. Im Hintergrund kann man die Spitze des Big Bens aus London erkennen.

Tante Herda, die eigentlich gar nicht meine Tante ist, sondern die Großmutter eines Freundes mit der ich ab und zu Kaffee trinken gehe, war vor ein paar Jahren in London, deshalb erkennt sie den Big Ben sofort. Ungläubig starrt sie das Mädchen mit dem Laptop an. "Redet die etwa gerade mit dem jungen Mann, der da in London sitzt?"




"Ähm, ich glaube schon." Mir fällt ein, dass Tante Herda sicher keine Ahnng hat, was ein Skypegespräch ist. “Das funktioniert übers Internet, verstehst du...? Telefonieren mit dem Computer. Das geht auch mit Kamera."



"Die Welt ist doch verrückt geworden." Kopfschüttelnd schneidet Herda ein Stück von dem Rhababerkuchen ab, der vor uns liegt und schiebt sich genüßlich ihre Gabel in den Mund. Einen Moment lang lächelt sie zufrieden. "Schön schmeckt der." Sie fährt sich über die Lippen, die wie abgestimmt zu der blassrosa Farbe des Rhababers passen. "Weißt du Kim, was ich früher immer zu meinen Kindern gesagt habe? Stellt euch mal vor, wenn man telefonieren könnte und sich dabei sehen würde!" Sie stößt ein heiseres Lachen aus. "Und jetzt geht das wirklich, sagst du? Das ist doch unglaublich! Ein Wunder!" Sie kneift die Augen zusammen und beäugelt argwöhnisch das Mädchen mit dem Computer.





Ich nicke, obwohl ich es gar nicht so verwunderlich finde, was das Mädchen da tut. Ich skype durchaus selbst gerne, gerade mit Freunden die nicht in Berlin in Deutschland wohnen. Da ist es schon ziemlich praktisch, sich übers Internet unterhalten zu können. Im Gegensatz zu Tante Herda finde ich das nicht unglaublich, sondern relativ normal.



Ich muss unweigerlich an meinen Freund Oscar denken, der fast permanent mit seinem Handy in Kontakt ist und damit im Internet herumstreunert. Er ist rund um die Uhr vernetzt, wie er das nennt, empfängt Nachrichten oder treibt sich auf den virtuellen Seiten von anderen Leuten herum. Tante Herda fände das sicher sehr eigenartig.



In meiner Zeit”, murmelt Herda nachdenklich, “da war alles ganz anders. Da gab es keine Kompjuter und Mehls... Als ich ein junges Mädchen war, da hatten wir keinen Fernseher! Kannst du dir das vorstellen, Kim?” Ihr Blickt zuckt durch den Raum, der gefüllt ist von Leuten die Kaffee trinken und Zeitung lesen und sich leise unterhalten. Klassische Musik dringt aus einem Lautsprecher an der Wand, an der sich große Regale mit Büchern stapeln. Eine Kellnerin eilt hektisch mit einem Tablett umher. Unsicher fährt Herda mit den Fingern über den Stoff des alten Sofas, auf dem sie sitzt. “Die Welt sieht noch ein bisschen so aus wie damals, aber ich glaube, es ist doch nicht mehr diesselbe.”



Du meinst, die Welt ist eine andere geworden?” Ich schiebe mir ein Stück Kuchen in den Mund und versuche mir vorzustellen, wie die Welt aus Herdas Augen wohl aussehen muss. Mit all der Technik, die es noch nicht gab als sie großgeworden ist. muss das sein.




Herda nickt bekräftigend. “Natürlich. Man versteht doch gar nicht mehr, wo die Leute alle hin sind!”



Wie meinst du das, wo sie hin sind?”



Herda deutet mit ihrem lachsfarben lackierten Fingernagel auf das skypende Mädchen. “Ist die jetzt hier oder ist die in London oder irgendwo in ihrem Netz? Man versteht das doch alles nicht mehr. Ich glaube, die Welt ist wirklich aus den Fugen geraten.” Fast ängstlich senkt sie die Stimme “Jeden Abend in der Tagesschau sehe ich diese ganzen Kriege. Terroristen. Die Umwelt geht kaputt. Die Banken haben kein Geld mehr..." Sie piekt einen Kuchenkrümel von ihrem Teller auf. "Da weiß doch selbst die Merkel nicht mehr, was sie tun soll. Wo soll das alles denn nur hinführen? Meinst du, es gibt Leute, die das noch verstehen?"



Ich zucke die Schultern. Eine gute Frage, finde ich. “Aber Kriege und Umweltzestörug und so etwas, das gab es doch schon immer, meinst du nicht? Nur, früher wusste man nichts davon, weil es kein Fernsehen und Internet gab, um all die Informationen zu verbreiten... Die Welt ist heute vernetzt und wir sehen einfach mehr von dem, was da ist, schätze ich”



Globalisierung, schießt es mir durch den Kopf. Ich sage aber nichts aus Angst, Herda noch 
mehr zu verunsichern. Das Wort klingt nach sehr viel Komplexität, nach sehr viel 
Undurchschaubarkeit. Zu viel Entwicklung, zu viele Informationen, ständig und überall. 
Kann das noch irgend jemand überblicken? Wahrscheinich nicht. 
Ist es schlimm, dass gar niemand den Überblick hat? Vielleicht nicht, vielleicht hat sich 
wirklich gar nicht so viel an der Beschaffenheit der Welt an sich geändert. 
Nur, dass wir jetzt ein bisschen mehr über sie wissen. All das Wissen, 
die ganzen Experten, alle haben sie ein bisschen Spezialwissen... 
Müssen wir das Wissen irgendwie zusammen bringen? 
Oder reicht es, dass verschiedene Leute Spezialwissen haben? 
Die Welt scheint ja zu funktionieren. Irgendwie. 
"Vernetzt...", murmelt Herda verständnislos. "Ich verstehe das alles nicht mehr. Diese Sprache... diese ganze Elektronik... die Wirtschaftskrise, Klimawandel... Ich bin ja nicht mehr so lange von dieser Welt." Ihre blassrosa Lippen zittern ein bisschen und ich drücke ihre Hand. "Aber ich hoffe für euch, für die zukünftigen Generationen, dass es Menschen gibt, die das alles verstehen." Sie schaut mich mit einem hoffnungsvollen Blick an. "Du studierst doch Philosophie, oder Kim?"

Ich nicke. "Ja schon, unter anderem."

"Ihr Philosophen wollt doch immer die Welt verstehen, oder? Du wirst herausfinden, was in der Welt passiert, oder? Alles wird gut."

Ich drücke ihre Hand. "Ja, Tante Herda. Alles wird gut."

Donnerstag, 13. Juni 2013

Streifzug Ulli: Jeder kriegt, was er verdient? - Im Jobcenter


VORGEPLÄNKEL

Der Türsteher sieht mir prüfend ins Gesicht. Ich hatte mir schon gedacht, dass es nicht ganz einfach sein würde, zusammen mit meinen Freunden das Jobcenter zu betreten.

Ich höre ein erbostes Schnauben und sehe, wie neben mir Ginnys Dreadlocks langsam anfangen, nervös auf und nieder zu zucken, als ihre Taschen abgeklopft werden. Ein schlechtes Zeichen. Ich hoffe, dass sie sich beherrschen kann.

Der Yogi Savinda ist hingegen wie immer die Ruhe selbst. Er lächelt dem Uniformierten milde zu, als dieser skeptisch dessen flatternde orange Hose beäugt. Mit einer würdevollen runden Bewegung breitet er unaufgefordert die Arme für die Security-Kontrolle aus. Dabei wirkt er eher so, als würde er auf das offene Meer schauen, anstatt auf den tristen Betonbau vor ihm.

„Ich sagte doch schon, wir haben keinen Termin und wir wollen übrigens auch niemanden überfallen! Was soll diese ganze Kontrolle? Jetzt glauben Sie uns doch einfach, dass wir hier nur einen Bekannten abholen wollen.“, jault Ginny empört auf. „Ihr Kollege, er arbeitet hier und hat heute Geburtstag. Manfred oder Jürgen, ach nein... Herbert heißt er. Was denken Sie denn, was ich sonst in Ihrem Hochsicherheitstrakt verloren hätte?“

Während der Türsteher Ginny beiseite führt um ihren Jutebeutel auszuleeren kommt Oscar in seinem Nadelstreifenanzug herbeigelaufen. Er hatte sich auf dem Weg ein wenig zurückfallen lassen, da seine neue Börsen App ihm Probleme zu bereiten schien. Ohne von seinem Smartphone aufzublicken schlendert er am zweiten Security-Beamten vorbei, der bescheiden einen Schritt zurücktritt.
Ich nutze die Gelegenheit um mich blitzschnell anzuschließen und auch Savinda schreitet nun wie zufällig Richtung Eingang. Perplex schaut uns der Uniformierte hinterher und zückt schließlich sein Funkgerät. Im Hintergrund höre ich Ginny zetern.

Wir finden uns beim Aussteigen aus dem Fahrstuhl im dritten Stock einer großen Gruppe von Menschen, diversen Büro-Schaltern und Absperrbändern gegenüber.

Sieht irgendwie aus wie am Flughafen. Nur ist in den Gesichtern keine Vorfreude auf die karibischen Inseln zu lesen. Hände umklammern Formulare, gesenkte Köpfe blicken auf den grauen Laminatboden oder mehr oder weniger teilnahmslos zu der Anzeigetafel mit den Wartenummern. Einige laufen auch unruhig im Kreis auf und ab oder versuchen ihre kleinen Kinder zu beruhigen. 


Statt an bunten Flugzeugpiktogrammen läuft man in der Warteschlange alle paar Meter an einem rot umrandeten Schild vorbei, das eine unmissverständliche Aufforderung von sich gibt.

Bitte ordnungsgemäß anstellen und Anträge bereithalten!“

Bitte Beachten: Sonderanträge nicht formlos gültig!“

Bitte beachten! Wenn aufgrund von Mittellosigkeit Barauszahlung erforderlich ist, bitte die Kontoauszüge der letzten 4 Wochen bis heute lückenlos vorlegen.“

Während ich noch etwas ratlos in der Gegend herumschaue, unterbreitet uns Oscar seinen Plan, wer bei der Suche welchen Bereich abdecken soll, um Ginnys Freund Herbert schnellstmöglich und effektiv zu finden, obwohl ihn noch niemand von uns kennt.
Davon unbeeindruckt wandelt Savinda mit einem seichten Lächeln auf den Lippen geradeaus davon, durchstreift die unruhige Menge und überschreitet elegant sämtliche Absperrungen, bis er schließlich in einem Gang verschwindet. „Wo geht er denn jetzt hin?“, erkundige ich mich bei Oscar. Der zuckt ärgerlich die Schultern. „Frag ihn bloß nicht, sonst sagt er nur: Der Weg ist das Ziel, oder irgend sowas.“

Ich nehme mir an Beispiel an Savinda und laufe wahllos einen der Gänge hinunter. An den Türen stehen die Namen verschiedener Mitarbeiter. Ob deren Büros wohl ein bisschen gemütlicher sind? Bei einem er Büros steht die Tür offen. An der Tür steht der Name 'Herbert Müller'. Ich linse hinein.


JEDER KRIEGT, WAS ER VERDIENT?




„Da sind Sie ja doch noch. Kommen Sie herein.“, fordert mich eine müde Stimme auf. Ich gehorche zögernd. „Setzen Sie sich.“

Der Mann mit den schlaffen Schultern und dem schütteren grauen Haar scheint irgendwie durch mich hindurch zu schauen, als monoton er erklärt: „Ich bin Ihr neuer persönlicher Ansprechpartner in Sachen Arbeitsvermittlung.“ In resigniertem Tonfall fügt er leise hinzu: „Ihr Fall wurde natürlich wieder mal zu mir verschoben“.

„Sie haben Ihre letzten drei Termine versäumt.“
„Tatsächlich?“
„Sie wissen, dass es Ihre Pflicht ist, sich regelmäßig bei uns zu melden.“
„Achso...“
„Wissen Sie, wir sind hier keine Bank. Ich muss hier auch regelmäßig erscheinen und etwas für mein Geld tun. Das müssen Sie deshalb auch, verstehen wir uns?“


Ich überlege kurz, ob ich Herrn Müller darüber aufklären soll, dass ich heute zum ersten mal im Jobcenter bin, entscheide mich dann aber dagegen. Er sieht sowieso schon so angestrengt aus, dass ich ihm die Verwirrung lieber erspare.
„Natürlich halte ich Sie nicht für eine Bank.“, antworte ich beschwichtigend.

„Wieso erscheinen Sie dann nicht zu Ihren Terminen? Finden Sie das gerecht, dass ich hier von morgens bis abends Kunden empfange, Anträge über Anträge auswerte und Sie ihr Geld hinterher geworfen bekommen? Man kann nicht immer nur haben, haben, haben. Man muss dafür auch etwas tun. Keine Leistung ohne Gegenleistung.“

 
„Und was könnte meine Gegenleistung sein?“
„Tun Sie alles erdenkliche um einen Arbeitsplatz zu finden!“
„Und wenn es keinen Arbeitsplatz für mich gibt?“
„Dann erscheinen Sie trotzdem zu ihren Beratungsterminen, füllen Sie anständig und pünktlich Ihre Anträge aus, bewerben Sie sich überall, wo es geht, und schauen Sie nicht so viel Fernsehen.“
Herr Müller wird langsam munterer.
„Aber wieso ist das dann gerechter, das hilft Ihnen doch auch nicht weiter, oder?"


Es entsteht eine irritierte Pause. Herr Müller schaut von seinem Bildschirm auf und scheint mich das erste Mal wirklich anzuschauen. Nachdrücklich erklärt er: "Jeder muss einer Erwerbsarbeit nachgehen. Man muss sich seinen Lohn verdienen."
Er wirft mir einen misstrauischen Blick zu: "Aber Sie sind nicht hier, um mit mir über Gerechtigkeit zu reden, Sie wollen nur Ihr Geld und dann wieder verschwinden, oder?“
"Naja, eigentlich bin ich nur hier um jemanden zu suchen...Trotzdem interessiert mich auch, wie Sie eigentlich Ihre eigene Arbeit finden."

Verwundert über die Gegenfrage kratzt sich Herr Müller nachdenklich am Kopf und setzt schließlich einen wehmütigen Blick auf.
„Früher hätte ich nie mit einem Kunden über mich geredet. Wissen Sie, früher hat mir dieser Beruf auch wirklich noch Spaß gemacht. Ist ja auch eine verantwortungsvolle Aufgabe. Schließlich gilt es, genau einzuschätzen, wer welche Chancen auf einen Arbeitsplatz hat und wem wieviel zusteht.“
 
Seine blauen Augen leuchten plötzlich unter dem grauen Haarschopf hervor.
„Wer motiviert und talentiert ist und wer faul. Und ich habe gegeben was ich konnte. Mit guten Resultaten. Zuckerbrot und Peitsche, wissen Sie. Und meine Kunden haben mir zugehört und waren dankbar. Aber ehrlich gesagt, irgendwie hat sich das alles geändert, hier ist kaum noch jemand richtig motiviert, wie denn auch? Außerdem bin ich zu alt für sowas. Man altert hier schneller als anderswo.“



„Jeder bekommt, was er verdient. Das ist mein Grundsatz und das wird es auch bleiben. Aber wissen Sie eigentlich, wie schwer das manchmal festzustellen ist, was jemand verdient?“
Er seufzt gequält und hebt einen riesigen Papierstapel hoch, den er geräuschvoll wieder auf den Tisch fallen lässt.



„Nehmen wir mal Ihr Beispiel. Sie gehören jetzt zum Teil der 80% nicht-wiedereingliederungsfähigen Kunden. Was soll ich denn mit Ihnen anfangen?“
Ich zucke schuldbewusst die Achseln und bemühe mich, ihm einen aufmunternden Blick zuzuwerfen.

Er blickt kurz irritiert hoch: „Aber da schreiben Sie jetzt keine Zeitungs-Columne drüber, oder? Hatte ich neulich auch schonmal... Das dürfen Sie nämlich eigentlich nicht sehen, aber gut, also hier ist ihr Profil.“
Er dreht den Computer-Bildschirm zu mir.
„Schauen Sie, hier in Ihrem Persönlichkeitsprofil steht schon eine Menge, das soll ich heute überarbeiten. Also, Sie sind 'eher reizbar', 'schwer zu motivieren' und 'erscheinen regelmäßig zu spät zu Ihrem Beratungstermin'.“


Er wirft mir einen prüfenden Blick über den Rand des Bildschirms zu.
„ Außerdem besuchen Sie Ihre Wiedereingliederungsmaßnahme nur sehr unregelmäßig, steht hier.“
'Wiedereingliederung'? Bin ich denn irgendwo 'ausgegliedert'?“

„Na selbstverständlich. Aus der Arbeitswelt und damiteigentlich gewissermaßen auch aus der Gesellschaft. Aber, keine Angst“, fährt er in beruhigendem Ton fort, als er meinen erschrockenen Blick sieht, „dafür gibt es ja die 'Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung'. Sie sind dazu da, Sie wieder an feste Strukturen zu gewöhnen. Damit Sie wieder lernen morgens früh aufzustehen. Feste Alltagsstrukturen sind das A und O. Das erleichtert Ihnen später den Einstieg in die Arbeitswelt.
Obwohl...bei Ihnen sieht das ein bisschen anders aus. Sehen Sie? Sie sind hier schon als 'arbeitsunwillig' eingestuft. Also Sie sind wirklich schon ziemlich weit unten in der Langzeitarbeitslosigkeit gelandet...“

Er wirft mir einen väterlichen Blick zu, der mich wahrscheinlich aufmuntern soll. „Bei Ihnen dient die Maßnahme eigentlich nur zur Strukturierung Ihres Alltags, das bewahrt Sie z.B. vor Depressionen und naja, die Quoten und Statistiken sind auch nicht ganz unwichtig, wir haben schließlich unsere Auflagen.“

„Was ist denn das für eine 'Maßnahme'?“ erkundige ich mich vorsichtig.
„'Drogenprävention'“
„Nehme ich Drogen? Nur weil ich keinen Job habe?“, frage ich erschrocken.
„Nein, nein. Ich sage meinen Kunden doch immer wieder, dass wir ihnen damit nichts unterstellen wollen. Es soll nur eine Unterstützung für den Fall der Fälle darstellen. Jetzt sein Sie doch nicht so gekränkt, Sie gehen ja sowieso nie hin!"


"Außerdem wollte ich auf etwas ganz anderes hinaus.“
Sein Blick wandert wieder müde zum Papierstapel.
„ Es ist jetzt endlich mühsam errechnet, was Ihnen zusteht. Sie wissen gar nicht, wieviel Arbeit hier drinsteckt. Aber Sie haben ja sowieso keine Vorstellung von Arbeit, darum sitzen Sie ja hier...
Man kann Ihnen aber zu Gute halten, dass Sie nicht ständig Sonderanträge stellen, die der Prüfung bedürfen. So etwas wie das Mittagessen für Schulkinder. Aber Sie haben ja zum Glück keine Kinder.“

„Trotzdem. Bei Ihrem Profil kann ich mir gut vorstellen, dass bald ein Prüfdienst zu Ihnen geschickt wird. Das müsste ich eigentlich mal veranlassen... Die kommen dann unangemeldet in Ihre Wohnung und schauen Ihre elektronischen Geräte an, messen ihre Quadratmeter nach... Falls Sie einfach nur ein Schmarotzer des Sozialstaats sein sollten. Und dann haben Sie natürlich 10 Quadratmeter mehr als angegeben in Ihrem Wohnzimmer. Und schon geht die ganze Rechnerei wieder los... Wissen Sie, ich saß mal in der 'Leistungsvergabe', also unserer Rechnungsstelle, das war auch nicht ganz leicht, wenn vielleicht auch angenehmer als mit den 80% Nicht-Wiedereingliederungsfähigen...“

„Und es ist nicht nur, dass das höllisch viel Arbeit macht, allen Leuten ständig hinterherzukontrollieren. Wenigstens bringt das unsere Mitarbeiter in Lohn und Brot. Nur manchmal ist es einfach zu frustrierend. Neulich, als alles mühsam errechnet war, habe ich einen Kunden zum psychologischen Dienst geschickt, damit dort für mein Profil einmal in Ruhe festgestellt werden kann, ob er überhaupt arbeitswillig ist. Da geht es darum, das wahre Gesicht des Kunden kennenzulernen.



Und was macht dieser sogenannte Dienst? Anstatt mir einfach zu bestätigen, dass der Kunde arbeitsunwillig ist, steht da etwas von psychischen Blockaden und Traumata. Was soll ich denn damit anfangen? Ich kann doch jetzt nicht anfangen miteinzukalkulieren, ob jemand in seiner frühen Kindheit nicht von seiner Mutti geliebt wurde, das ist doch hoffnungslos... Außerdem stand da, ich würde zu viel Druck auf ihn ausüben und seine Persönlichkeit nicht respektieren. Die Leute sind doch alle verrückt geworden. Ich will doch nur das Beste für ihn, nämlich ihm einen Arbeitsplatz verschaffen und ihm beibringen, dass man etwas für sein Geld tun muss...“

Ich nicke verständnisvoll. „Vielleicht funktioniert das mit dem Einkategorisieren und dem Verdienstprinzip in der Praxis einfach nicht ganz so gut.“
„Vielleicht...“
„Und fühlen sich nicht manche Kunden etwas gekränkt, wenn sie immer nur danach bewertet werden, ob sie einer anerkannten Erwerbsarbeit nachgehen und ihnen automatisch unterstellt wird, dass sie faul sind? Zumal es ja auch einfach aus strukturellen Gründen nicht genug Arbeitsplätze gibt."
Herr Müller zieht grimmig die Augenbrauen zusammen.

Ich wechsle schnell das Thema:
„Das kostet doch auch alles ganzschön viel, festzustellen, wer was verdient, oder?“
„Unsummen und am Ende bleibt es trotzdem immer vage.“
„Ich habe mal gehört, dass man von dem Geld, das man in der Arbeitsverwaltung einsparen könnte, sogar ein Grundeinkommen finanzieren könnte.“
„Ein Einkommen, das man sich nicht verdient?“
„Naja, man verdient es sich nicht durch Erwerbsarbeit. Es reicht sozusagen aus, dass man ein Mensch ist. Es würde auch nur das abdecken, was man zum grundlegenden Lebenserhalt braucht und dafür müsste man auch nicht kontrolliert und kategorisiert werden."
„Das geht nicht. Vielleicht finanziell. Aber moralisch? Jeder soll nur bekommen, was er verdient.“

Samstag, 1. Juni 2013

Streifzug Kim: Freiheit statt Freizeit? Das bedingungslose Grundeinkommen

Anlässlich des Geburtstags meines Freundes Herbert, der in einem Jobcenter in Neukölln arbeitet, sitzen wir an einem lauen Frühlingsabend im Biergarten und sprechen über das bedingungslose Grundeinkommen.

Herbert, ein rundlicher Mann mit graumeliertem Haar, das an einigen Stellen schon zur Glatze neigt, befindet sich eigenen Aussagen zufolge gerade in einer Lebenskrise des mittleren Alters. Er ist unzufrieden mit seiner Arbeit, die ihm jeden Tag spiegelt, wie sinnlos und ungerecht das Leben ist. Er hat keine Freunde und wollte sich ursprünglich zum Geburtstag mit einer Flasche Wein in die Badwanne zu setzen. Um ihn aufzuheitern, habe ich ein paar Freunde eingeladen. Jetzt sitzen wir in dem Efeubewachsenen Garten im Hinterhof einer Neuköllner Kneipe.




Oscar, der heute ein Börsenschnäppchen gemacht hat und sich deshalb in hervorragender Stimmung befindet, hat zur Feier des Tages hat er eine Runde Getränke für alle ausgegeben. Herbert trinkt Wein, Ginny und ich Bier, Dave, dessen Gesicht hinter einer antiken Spiegelreflexkamera verschwunden ist, Clubmate mit Vodka. Savinda schlürft Mangolassi und Oscar hat sich einen Whiskey Bourbon genehmigt. Er prostet Herbert zu, der sein Weinglas hebt und mit gequältem Lächeln zurückprostet.

“Alles Gute und Glückliche im neuen Lebensjahr. Erfolg, Reichtum, Wachstum...”
“Ja, ja. Lass gut sein." Herbert hebt abwehrend die Hände und fährt sich mit bedrückter Mine über seine Halbglatze. “Dazu wird es wohl kaum mehr kommen...”

Die bunte Runde an unserem Tisch sticht sichtbar aus dem Publikum aus älteren türkischen Herrschaften und jungen StudentInnen hervor. Trotzdem scheint sich niemand darüber zu wundern, dass Dave am laufenden Band Fotos schießt mit einer Kamera, die ihre besten Jahre schon hinter sich hat, oder dass Savinda barfuß herumläuft.


“Ach Herbert.” Ginny knufft den Mann in die Seite und hebt ebenfalls ihr Glas. “Lass dich doch nicht immer so unterkriegen.”
“Ja, ja, du hast gut Reden.” Herbert nimmt seine Brille ab und putzt ausgiebig  die beschlagenen Gläser. “Wenn du wüsstest, wie furchtbar es ist, jeden Tag zur Arbeit zu gehen... immer diese faulen Leute, die nicht arbeiten wollen. Und dieser ständige Papierkram mit dem ich mich beschäftige, der macht mich ganz krank.”

Oscar nippt an seinem Whiskey und schenkt der vorbeiziehenden Kellnerin ein wohlwollendes Lächeln. “Das liegt an dem vollkommen überholten Arbeitslosensystem, in dem du da arbeitest, auf das sich der deutsche Staat leider Gottes immernoch bezieht. Nichts als Bürokratie, für die der Steuerzahler aufkommen muss.” Er schüttelt abschätzig den Kopf. “Ich habe das mal durchgerechnet. Es wäre viel effizienter, ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen.”

Ich werfe Oscar einen interessierten Blick zu. "Bedingungslos?" Das Wort habe ich noch nie aus seinem Mund gehört. Auch Savinda sieht  auf und seine Mine erhellt sich. Lautstark zieht er an seinem Strohhalm.

Oscar nickt und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. “Wenn man die ganzen Bedürftigkeitszahlungen vereinfacht und den Aufwand der Bedürftigkeitsprüfung streicht, dann spart man so viel Geld, dass man jedem Bürger ein Grundeinkommen auszahlen könnte.“

“Dann wäre ich ja arbeitslos”, murmelt Herbert mit düsterer Mine.
“Na und? Dann würdest du ja ein Grundeinkommen beziehen und könntest effektivere Dinge tun als sinnentleerte Verwaltungsarbeit, die niemandem etwas nützt."



Ich erinnere mich, dass ich bei den letzten Berliner Wahlen etwas von einem bedingungslosen Grundeinkommen auf den Plakaten einer der Parteien gelesen habe. "Das heißt doch, jeder Bürger soll einen bestimmten Betrag an Geld im Monat bekommen, mit dem seine Existenz und seine gesellschaftliche Teilhabe abgesichert ist, stimmt’s? Egal, ob er arbeitet oder wie viel er verdient, oder? Hatten das nicht die Piratenpartei in ihrem Programm?”

“Piratenpartei”, sagt Oscar abschätzig und nippt an seinem Whiskey. “Du weißt genau, dass ich mich ganz der FDP verschrieben habe. Das bedingungslose Grundeinkommen entspricht aber absolut meinen liberalen und ökonomischen Interessen. Gerade verfließt doch immenses Steuergeld in einem vollkommen unnötigen Bürokratieapparat der so tut, als wäre Arbeitslosigkeit ein vorübergehendes Problem."

“Das ist es ja auch", wirft Ginny ein. "Arbeitslosigkeit ist ein strukturelles und systeminhärentes Problem des Kapitalismus.” Sie klopft mit der Faust auf den Tisch, Dave schießt ein paar Fotos von ihr. “Für mich klingt dieses bedingungslose Grundeinkommen ganz nach einer Masche der Elite, um sich vor Mindestlöhnen und Vollzeitanstellungen zu drücken.”

Oscar verdreht die Augen. “Das Grundeinkommen hat doch nichts mit dem Mindestlohn zu tun, das ist eine ganz andere Debatte. Aber ist ja mal wieder typisch für dich und deine Leute, dass ihr einfach alles zusammen werft..." Er kippt seinen Whiskey herunter. "Und von wegen Vollzeitanstellung, das  ist es ja gerade. Es kann keine Vollzeitanstellungen für alle geben, weil gar nicht genug Arbeit für alle da ist.”

“Natürlich ist genug Arbeit für alle da!” Erzürnt starrt sie Oscar an.
Herbert nickt zustimmend. “Wer arbeiten will, der findet auch Arbeit. Würde so ein bedingungsloses Grundeinkommen etwa bedeuten, dass selbst die faulen Leute, die gar nicht arbeiten wollen, einfach Geld vom Staat bekommen?”

Savinda zieht an seinem Strohhalm und wirft Herbert einen strengen Blick zu. “Faule Menschen, fleißige Menschen... es ist doch alles eins! Man sollte allen Menschen bedingungslos Geben, damit sie sich frei entfalten können.”

Dave, der bis dahin permanent durch sein Objektiv gestarrt hat,  lässt die Kamera langsam sinken. “That's true." Er schlägt die Beine übereinander, seine neongrünen Socken kommen zum Vorschein. "Freie Entfaltung. Ich fände ein bedingungsloses Grundeinkommen great. Dann könnte ich mich endlich ganz frei in der Kunst entfalten und müsste nicht mehr in der Agentur arbeiten, um Geld zu verdienen.”

“Ja, ja.” Oscar winkt der Kellnerin zu, um sich noch einen Whiskey zu bestellen. “Auf jeden Fall  hätten mehr Kleinunternehmer und Leute mit Innovation eine finanzielle Grundlage, um erfolgreich durchzustarten.“



"Unsinn." Herbert rümpft die Nase. "Wenn jeder ein Grundeinkommen bekommt, dann will doch niemand mehr arbeiten."

"Wieso müssen denn alle Menschen unbedingt arbeiten?" Oscar lächelt der Kellnerin zu, die seinen Whiskey auf dem Tisch abstellt. "Gesellschaft wurde immer von einer Elite getragen. Die meisten Arbeitslätze brauchen wir überhaupt nicht mehr, damit unser Land funktioniert. Wir leben doch in Zeiten der Industrialisierung, mittlerweile haben eben die Maschinen einen Großteil der Arbeit übernommen." Triumphierend sieht er in die Runde. "Warum sollten manche Leute nicht einfach das Leben genießen, wenn sie nicht arbeiten wollen?“

"Auf Kosten von Papa Staat, ja?", sagt Herbert sichtlich verärgert.

"Warum soll es besser sein, einer Arbeit nachzugehen, die keiner braucht? Wir sind ein reiches Land und es ist genug Geld für alle da, solange die wichtigen Sektoren, funktionieren. So wie der Wirtschaftszweig."

"Und die Kunst. Art, das ist auch sehr wichtig!“, wirft Dave mit ernster Mine ein.

"Ja, ja. Auf jeden Fall  muss ein großer Teil der Arbeit nicht mehr von Menschen gemacht werden. Wieso also nicht einfach den Leuten ihr Geld zum Leben geben und sie machen lassen, was sie wollen, statt sie in sinnlose Jobs zu zwingen?”

„Richtig.“ Savinda nickt langsam. „Zwang und Existenzangst, das sind keine Grundlagen für ein spirituelles und selbstbestimmtes Leben.“ Er beginnt Däumchen zu drehen. „Wenn alle Menschen frei wären zu entscheiden, was sie tun wollen… das wäre ja ein ganz neuer Schritt in der Menschheitsgeschiche! Dann geht es im Alltag nicht mehr um die Frage des Überlebens, sondern endlich um die Frage des Seins! Dann ist Raum für die tiefen spirituellen Fragen.“

“Spirituelle Fragen?”, wiederholt Herbert. Er streicht seinen Schnauzbart glatt und starrt Savinda kopfschüttelnd an. “Dann verblöden die Leute vor dem Fernseher, weil sie keinen Antrieb zur Arbeit mehr haben!”



Ginn wirft ihm einen fuchsigen Blick zu. „Ach ja? Würdest du denn nicht mehr arbeiten, wenn du ein Grundeinkommen hättest?“

Herbert trinkt etwas Wein und schürft die Lippen. „Na ja, ich würde vielleicht schon noch arbeiten. Man braucht ja auch so was wie einen Alltag. Aber weniger. Damit ich mehr Zeit zum Angeln gehen hab.“ Ein kleines Lächeln zeigt sich auf seinen Lippen, offenbar beim Gedanken an seine Fische. „Auf jeden Fall würde ich nicht mehr im Jobcenter arbeiten.“

„Würdest du etwa auch artist werden wollen?“, wirft Dave ein. Mit besorgter Mine knibbelt er am Schild seiner Clubmate Flasche. „Wenn alle ein Grundeinkommen haben, vielleicht wollen sich dann alle freestyle in der Kunst entfalten. Dann sind die people aus der Branche überhaupt nicht mehr exklusiv. Das wäre ja awful!“

„Das glaube kaum“, sagt Herbet zweifelnd. „Die Leute, die zu mir ins Jobcenter kommen, sind größtenteils auch keine Künstler. Das sind doch alles Schlawiner, die am liebsten vor dem Fernseher sitzen und den Staat um sein Geld bringen. Die würden durch so ein Grundeinkommen noch gestärkt werden.”

“Das ist vielleicht die Unterschicht”, sagt Oscar trocken. “Die wird es immer geben. Wer nicht arbeiten will, der kann auch von Harz 4 leben, das ist doch jetzt schon so. Die Mittelschicht wird weiter arbeiten, auch mit bedingungslosem Grundeinkommen. An dem Anreiz, mehr Geld zu verdienen, verändert sich doch überhaupt nichts. Meinst du, die Leute wollen sich mit einem Grundeinkommen zufrieden geben? Der Mensch strebt immer nach mehr Geld! Sonst würde ja niemand arbeiten, der aus einem guten Elternhaus stammt.“

„Geld, Geld, Geld… Der Mensch findet doch auch Erfüllung in seiner Arbeit“, wirft Ginny ein.  „Das Problem ist doch, dass die sinnvollen Jobs nicht vernünftig bezahlt werden. Der Pflegesektor zum Beispiel. Und die ganze ehrenamtliche Arbeit die Menschen machen, um echte Probleme so wie Hunger und Armut zu bekämpfen. Wir brauchen kein bedingungsloses Grundeinkommen, sondern einen Mindestlohn und eine gerechte Umverteilung von Geld!”

“I don't understand”, meint Dave und schaut Ginny über den breiten Rand seiner Brille hinweg an. “Wenn du schon ein Grundeinkommen hast, dann kannst du doch ehrenamtlich arbeiten, ohne dafür bezahlt zu werden. Ich mache doch auch meine Kunst und kriege fast kein Geld dafür. Ich finde es schwachsinnig immer so zu trennen zwischen work und freetime. Man muss doch einfach leben. Go with the flow. Nicht nur arbeiten wie eine Maschine.”

Savinda nickt strahlend. „Bedingungslose Freiheit würde so viele menschliche Potentiale freisetzen! Mehr Zeit für Spiritualität, für die Sinnfrage, für das Miteinander…“

„Für politisches Engagement und die echten Weltprobleme vielleicht“, korrigiert Ginny.



“So ein Unsinn”, sagt Herbert kopfschüttelnd. “Wer soll denn dann die ganzen unangenehmen Jobs machen, wie... Toiletten putzen oder im Supermarkt arbeiten?”

“Die müssten eben endlich mal besser bezahlt werden”, wirft Ginny ein. Nachdenklich kaut sie an ihrer Unterlippe herum. “Trotzdem gefällt es mir nicht, dass ein Millionär auch ein Grundeinkommen kriegen soll – das gleiche wie die arme Putzfrau. Das ist doch ungerecht.”

„Jeder sollte kriegen, was er verdient“, murmelt Herbert zustimmend in seinen Wein.

“Ach ja, und im Moment ist besonders gerecht oder was?“ Oscar zieht sarkastisch die Augenbrauen hoch. "Du glaubst doch nicht etwa, dass unser jetziges Steuersystem für deine Putzfrau besonders nett ist?"

Plötzlich fällt mir etwas ein. „Ich bekomme doch Bafög vom Staat, dafür, dass ich studiere. Das ist doch auch schon ein bisschen wie ein Grundeinkommen, oder?“

Savindas Augen funkeln vor Begeisterung. „Siehst du und das ermöglicht dir, dich mit philosophischen Fragen zu beschäftigen. Endlich kann der Mensch frei entscheiden, wem oder was er sein Leben widmen möchte. Ohne Zwang und ohne Angst.“ Begeistert schaut er Oscar an. „Wo kann ich unterschreiben, damit dieses Grundeinkommen eingeführt wird?“