Freitag, 24. Mai 2013

Streifzug Kim: Rastlosigkeit

Berlin, ein Tempel der Rastlosigkeit.

Ich sitze mit Ginny im Boxhagener Park in Friedrichshain, wo sie mir von einem seltamen Gefühl der Unruhe erzählt, das sie seit einiger Zeit überkommen hat.

Es ist einer der ersten Frühlingstage in Berlin. Nach dem elend langen Winter, der sich noch bis weit in den April gezogen hat, kämpfen sich die ersten Sonnenstrahlen durch die ewig grauen Wolken und beleuchten den Platz mit Heiterkeit. Wie das im Berliner Frühling so ist, kann man die Freude der Menschen über das Ende der grau winterlichen Trostlosigkeit fast spüren: zwei kleine Mädchen spielen Fussball auf der Wiese, ein Typ mit tätowierten Armen sitzt im Gras und zupft genüsslich an seiner Gitarre, das lesbische Pärchen auf der Bank hält demonstrativ eine Eiswaffel in der Hand und eine Gruppe von Hippies sitzt trommelnd auf dem Rasen.



"Es ist diese Stadt", klagt Ginny und starrt finster auf das Schokoladensojaeis in ihrer Hand. "Es passiert einfach immer zu viel zur selben Zeit. Ständig müsste man an tausend Orten gleichzeitig sein.” Sie leckt hektisch an ihrem Eis, das schon anfängt zu schmelzen und an einer Stelle die Waffel hinab tropft. 

Neben uns sitzen meine Freunde Savinda und Oscar, von denen allerdings keiner den Eindruck macht als würde er zuhören. Savinda hat die Beinde übereinander geschlagen und scheint zu meditieren. Entweder das, oder er lauscht Ginny mit geschlossenen Augen in größter Konzentration. Bei Savinda weiß man das ja nie so genau. Oscar spielt mit seiner Neuerwerbung, dem I-Phone 5, auf dem er mit liebevoll verzückter Mine herumtippt. Ab und zu schaut er kurz auf und macht "hmm, ja stimmt”, wobei die Kommentare selten zu dem passen, was Ginny und ich gerade sagen. Ich nicke Ginny aufmunternd zu um zu demonstrieren, dass zumindestens einer ihr zuhört.


 "Weißt du, wie viele Termine und Verabredungen ich dauernd habe?" 
Sie scheint die mangelnde Aufmerksamkeit der anderen gar nicht wahrzunehmen. 
Düster starrt sie zu den trommelnden Hippies herüber, die sich mit geschlossenen Augen zu ihrem Rythmus hin und her bewegen. 
"Ständig sitze ich in der U-Bahn und hetzte von einer Demonstration zur nächsten. Dann zum Kaffeetrinken, zur Party... und trotzdem hab ich immer noch das Gefühl, als würde ich ständig etwas verpassen." Sie stöhnt. "Das ist so was von anstrengend.”



"Hm.” Nachdenklich zupfe ich etwas Gras von der Wiese. Ihre Worte klingen seltsam vertraut. Ständig etwas tun zu müssen und von einem Ort zum anderen zu eilen. Das kommt mir sehr bekannt vor. 

Ich selbst saß gerade noch im Vorlesungssaal in Dahlem, bin dann stracks zur U-Bahn gelaufen um nicht zu spät zum Treffen mit Ginny zu kommen und habe während der vierzigminütigen Fahrt nach Friedrichshain in der U-Bahn noch eben einen Text über die soziale Konstruktion der Wirklichkeit gelesen. Gerade an der Stelle, in der es um die gesellschaftliche Formung unserer Alltagszwänge ging und ich mich fragte, wer eigentlich bestimmt, was ich ständig tun muss, wo ich doch eigentlich als junger Mensch in Berlin so frei und unabhängig sein sollte, hielt die Bahn an der Warschauer Straße und ich musste aussteigen, weiter eilen. 
Jetzt bleibt mir zwar keine Zeit mehr, um über die Sache mit den gesellschaftlichen Zwängen nachzudenken, aber immerhin, einen von zehn Unitexten abgehakt. Ständig dieses Textelesen das einfach nie aufhört. 
Manchmal wache ich morgens auf und das erste, woran ich denke ist die Frage, welchen Text ich als ersten lesen muss. Das finde ich ein bisschen erschreckend. Ich frage mich, ob es das gleiche Gefühl von Rastlosigkeit ist, von der Ginny spricht. 

Sie fährt fort: "Auf der Demo frage ich mich, ob ich nicht lieber zu meiner Verabredung zum Pizzaessen hätte gehen sollen und beim Pizzaessen hab ich ein schlechtes Gewissen, weil ich vielleicht besser auf einer Demo wäre und stattdessen dekadent beim Italiener sitze.." Unglücklich beginnt sie an ihrer Waffel zu knabbern. 

Der Typ mit der Gitarre ein Stück weiter fängt an leise zu summen. Er sitzt unter einem Kirschbaum, der seine blasslila Blüten in die Sonne streckt. Ziemlich schön sieht das aus. Berlin im Frühling ist wirklich schön. 

Die beiden kleinen Fußball spielenden Mädchen kicken ihren Ball zu uns herüber. Sie kichern. Mechanisch wirft Ginny ihn zurück. 
"Ich bin so etwas von müde. Aber ich kann auch nicht mal für einen Moment still halten, weil es ja immer etwas Neues zu tun gibt. Es ist diese Stadt! Ist dir schon mal aufgefallen, wie schnell in Berlin die Ampeln von grün auf rot schalten? Immer wird erwartet, dass man in Bewegung ist. Es gibt einfach zu viel zu tun.”

Ich muss das Pärchen auf der Bank anschauen, das sein Eis fertig gegessen hat und jetzt Zeitung liest. Der Tatoomann mit der Gitarre singt noch lauter, er hat die Augen geschlossen und scheint vollkommen versunken in seiner Musik. Etwas weiter sitzen ein paar Jungs und sonnen ihre Sixpackbäuche, ihr Gelächter wird vom Wind des violetten Kirschbaums herübergetragen. 
Seltsam, die Leute in diesem Park wirken so friedlich, so versunken im Moment. Was für ein Kontrast zu Ginnys Worten. 


"Rastlosigkeit.” Ich schaue mich auf der Wiese um. Der meditierende Savinda atmet laut und tief. Selbst Oscar sieht aus wie ein kleiner Junge, der sich voller Hingabe seinem Spielzeug widmet. Der Park wirkt so wenig rastlos. Hält Berlin im Frühling für ein paar Momente still? Oder denken doch alle gerade an all die tausend Dinge, die sie gerade tun müssten? 

"Ich frage mich, wer das alles bestimmt.” Ich schaue Ginny an, die an ihren schwarz lackierten Fingernägeln knibbelt. "Meine Unitexte, die Leute die wir treffen, deine Demos... wieso machen wir das alles ständig... und setzen uns nicht einfach hin und... und meditieren, so wie Savinda?”

"Meditieren”, brummt Ginny verächtlich und wirft dem laut atmendem Yogi einen leicht abschätzigen Blick zu. "Was soll das denn bringen, wenn ich anfange zu meditieren? Für wen tue ich das denn? Doch nur für mich selbst. Zu Demos gehe ich ja, um was zu verändern. Deshalb ließt du doch auch deine Texte, oder?” Sie mustert mich scharf.

"Äh, jaa...” Ich bin mir zwar nicht ganz sicher, aber unter Ginnys kritischem Blick scheint es mir ratsamer zu sein, zustimmend zu nicken.

"Um was gesellschaftlich zu verändern, stimmt's? Deshalb studiert man ja wohl so was wie Philosophie oder Politik. Um die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verstehen und sie dann zu revolutionieren!” 

"Ähm, jaah. Wahrscheinlich...”

"Ja siehst du. Es gibt schon einen Grund dafür, dass ich so rastlos bin. Deshalb bin ich ja nach Berlin gekommen. Weil man hier etwas verändern kann. Es gibt einfach so viel zu tun!” Ginnys Stimme bekommt wieder einen leicht verzweifelten Tonfall. "Aber manchmal ist es irgendwie einfach zu viel. Wäre doch schön, wenn ab und zu mal die Zeit stehen bleiben würde.” 
Sie blickt noch mal zu den trommelnden Hippies herüber und sieht dabei fast so aus, als würde sie die fremden Menschen ein bisschen beneiden. Dafür vielleicht, dass sie nichts anderes tun als dazusitzen und zu trommeln.

In dem Moment stößt Oscar überraschenderweise ein genervtes Schnauben aus. Mit ungeduldigem Blick schaut er von seinem I-Phone auf und blickt Ginny fest in die Augen. "Ich sage dir jetzt mal etwas, das dich wahrscheinlich ziemlich umhauen wird und das du gar nicht gerne hörst. Ich sag es aber trotzdem, ja?”

"Was denn?”, fragt Ginny misstrauisch.

"Du kannst die Welt nicht retten.”

"Was?”

"Du wirst die Welt nicht retten.”

"Was soll das denn heißen?”

"Das soll heißen, dass egal, was du machst, die Welt grundlegend so bleiben wird, wie sie ist. Ganz egal was du tust. Verstehst du? Du kannst zu dreimilliarden Demos gehen und jede Minute deines Lebens für irgendwelche Weltprobleme aufopfern. Es wird immernoch Armut geben und Kriege und Leid. So ist die Welt nun mal.”

Ginny starrt ihn wortlos an. Ihr scheint selbst nicht ganz klar zu sein wie sie auf das, was Oscar sagt, reagieren soll. Sie wirkt fast ein bisschen fassungslos, was bei Ginny eigentlich selten vorkommt. 

"Die Welt nicht retten”, murmelt sie leise vor sich hin, mehr zu sich selbst als zu uns. "Das ist doch Quatsch.” 
Sie schüttelt ungläubig den Kopf, ihre Rasterlocke fliegt hin und her. "Ich meine, das ist doch klar. Aber man kann doch kleine Dinge in der Welt verändern!”

Oscar zuckt gleichgültig die Schultern und greift wieder zu seinem I-Phone. "Vielleicht sorgst du ja irgendwann in deinem Leben mal dafür, dass ein paar Kinder weniger verhungern oder irgendwo die armen Näherinnen zwei Dollar mehr verdienen. Dafür ermodert dann irgendein Irrer wieder ein paar tausend Menschen, irgendwo gibt es eine Naturkatastrophe die ein paar Millionen in die Armut stürzt und bei einem Terroranschlag bricht die halbe Welt zusammen... es gibt immer Schlechtes und das wird sich auch nicht ändern. Wenn du dich damit mal abfinden würdest, dann könntest du auch endlich mal aufhören von einer Demo zur anderen zu hetzen und dein Leben danach zu richten, was du tun solltest. Dann könntest du auch mal bisschen dein Leben genießen, so wie ich, oder wenigstens meditieren so wie Savinda.” 
Er grinst und betrachtet den meditierenden Mann neben sich mit einem sarkastischen Blick, den Savinda natürlich nicht bemerkt weil er noch immer die Augen geschlossen hat.


Ginny schüttelt den Kopf. "Das stimmt doch nicht. Das stimmt einfach nicht. Man kann sein Leben nicht einfach egoistisch vor sich hin leben! So soll denn da der Sinn sein? Selbst Savinda mit seiner Meditation muss doch irgendwas anderes damit bezwecken als nur sich selbst zu befriedigen.” 
Sie klingt schon wieder verzweifelt und zieht leicht an Savindas orangenen Umhang. "Mann, sag du doch auch mal was. Du hast doch sonst immer die ganzen Weisheiten.” In ihrer Stimme liegt fast etwas Flehendes. "Es macht ja wohl einen Unterschied, was man als Einzelner tut oder?”

Savinda fährt aus seiner Yogihaltung hoch und reibt sich einen Moment lang verwirrt über die Augen. Dann lächelt er Ginny strahlend zu.
"Ginny.” Er legt ihr die Hand auf die Schulter und schaut ihr tief in die Augen. "Alles ist Bewusstsein.”

Oscar hängt schon wieder über seinem I-Phone und Ginny seufzt laut. "Kannst du nicht einmal einfach meine Frage beantworten?”

"Da gibt es eben nicht viel zu sagen”, brummt Oscar triumphierend ohne aufzusehen. "Ich hab doch Recht.”

"Ja und nein”, sagt Savinda und wiegt den Oberkörper dabei von einer Seite zur anderen. 

Er schaut sich um und sieht wohl zum ersten Mal die Hippies vor uns, die noch immer trommeln, das Pärchen mit dem Eis, der Typ mit den Tatoos der jetzt an einem Bier nippt. All die Menschen im Park, die den Berliner Frühling zelebrieren. Savinda lächelt, anscheinend gefällt ihm die Szene. "Alles ist eins”, sagt Savinda mit leiser Stimme die klingt wie ein Pendel, das langsam hin und her schwingt. "Das, was du Gut nennst und das, was du Böse nennst. Alles gehört zusammen. Alles ist Bewussstsein.”

"Ja klar”, schnaubt Ginny. "Also den Baum hier”, sie deutet auf den blühenden Kirschbaum. "Den gibt's eigentlich gar nicht, ja? Das ist alles nur in meinem Kopf oder was? Und die sterbenden Kinder in Afrika und die armen Bauern in Süd Amerika, den kann man am besten auch einfach sagen dass ihr ganzes Leid ja nur Bewusstsein”, sie spuckt das Wort aus wie ein besonders obzönes Schmipfwort, "also alles nur in ihrem Kopf stattfindet, ja? Na toll.”

Savinda hat noch immer sein mildes Lächeln auf den Lippen, das er sowieso nur selten ablegt.

Als er nicht antwortet, mischt sich stattdessen wieder Oscar ein: "Es ist doch sowieso vollkommen egal, was du den armen Kindern erzählst, du kannst ihnen doch überhaupt nicht richtig helfen. Höchstens vielleicht ein paar ganz wenigen von Milliarden! Was macht das denn für einen Unterschied? Und dafür lebst du dein ganzes Leben lang nur gestresst.”

Savinda wiegt den Kopf hin und her. 

"Alles ist Bewusstsein”, sagt Savinda noch einmal. Er legt seine zweite Hand auf Oscars Knie (der wackelt unwohl mit dem Bein, er mag zu nahen Körperkontakt mit Männer nicht besonders) und lächelt mir zu, als wollte er mich mit seinen Augen berühren. "Wenn alles Bewusstsein ist, dann gibt es auch keine Vergangenheit und keine Zukunft. Nur den bewussten Moment. Dann ist der Unterschied, den du machst, ob du das, was du tust, bewusst tust.” Er legt so erfreut die Hände aufeinander, als wären nun alle Fragen geklärt.

Tatsächlich schließt er dann wieder die Augen und widmet sich seiner Meditation. 

Oscar stößt einen Seufzer aus und streichelt sein Handy. Ginny blickt in die Sonne und ich rupfe noch etwas Gras aus dem Boden. Die Hippies trommeln noch immer. Sie haben die Augen geschlossen und wirken so, als wären sie völlig versunken in der Musik. Der Tatoomann mit der Bierflasche hat sich in der Sonne ausgestreckt und strahlt eine eigenartige Gelassenheit aus. Das Pärchen auf der Bank blättert versunken in einer Zeitung. 
Ist es das, was Savinda meint wenn er davon redet, etwas bewusst zu tun? Ich muss daran denken, wie Leute normalerweise durch die Straßen hetzen, bei rot über die Ampeln rennen, Fahrrädern aus dem Weg springen, sich gegenseitig beschimpfen. 
Machen diese Menschen mit ihrer Ruhe und der Art, wie sie im Moment leben, irgendeinen Unterschied?

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