Woher wissen wir eigentlich, dass die Entscheidungen, die wir treffen, die richtigen sind?
Vor kurzem war ich auf einer Vernissage von meinem Freund Dave, der eigentlich David heißt aber das klingt nicht so cool, findet er. Dave hat ein kleines Atellier im Prenzlauer Berg, wo er seine Fotos ausstellt. Dorthin läd er ab und zu schicke Leute ein, die sich seine Bilder anschauen, dabei Sekt trinken und ein bisschen über Kunst und Literatur reden. Dave verbringt fast den ganzen Tag damit, durch die angesagten Viertel von Berlin zu laufen und abgefahrene Sachen wie Graffiti an Mauerwänden oder heruntergekommene Häuserfassaden zu fotografieren. Ansonsten feiert er morgens in Clubs, geht nachmittags frühstücken oder unterhält sich mit Leuten über Kunst.


Dave wirkt sehr glücklich. Auf der Vernissage beobachte ich ihn heimlich, wie er lässig an der Wand lehnt, ein Glas Sekt in der Hand, an dem er nippt und gedankenverloren seine eigenen Bilder anschaut. Dave hat sich dazu entschieden, den Großteil seines Alltags der Kunst zu widmen und das scheint ihn voll und ganz zu erfüllen.
Womit verbringe ich den Großteil meines Alltags? Ich sitze in der Universität in Vorlesungen und lerne etwas über die Welt. Erfüllt mich das? Ich starre eines von Daves Bildern an, eine Explosion aus bunten Farben. Ich weiß es nicht. Ich mag die Uni, ich fühle mich wohl in meinen Vorlesungen und es macht Spaß, Dinge über die Welt zu lernen. Aber woher will ich wissen, dass es nicht Dinge gibt, die mir noch viel mehr Spaß machen würden? Fotografieren zum Beispiel. Oder Bergsteigen oder Mandoline spielen. Vielleicht wäre mein Leben viel erfüllter, wenn ich mich mit etwas anderem beschäftigen würde als ich es momentan tue. Aber wie kann ich jemals herausfinden, für welche Beschäftigung ich mich am besten entscheiden sollte, wenn ich nicht jede einzige Tätigkeit ausprobiert habe mit der man sich auf der Welt beschäftigen kann?


Berlinbild

Wieder starre ich Daves Fotografie an, die wohl das sehr wilde und freie Werk eines Graffitikünsters dastellt. Dieser Künstler war im Moment seiner Kunstausübung sicher sehr erfüllt. Was genau sein Werk dastellen soll und wieso er es auf dem Stück Mauer hinterlassen hat, das dann von Dave fotografiert wurde, ist mir allerdings schleierhaft. Wofür, frage ich mich. Ist es wichtig, ein Wofür zu haben? Oder reicht es, das zu fnden, was einen am meisten erfüllt? Erfüllen, was bedeutet das in diesem Zusammenhang überhaupt? Dave benutzt das Wort immer, wenn er über die Kunst redet weil er sagt, dass Kunst das einzige sei was ihn erfüllt. Erfüllt mit was? Mit Glück, mit Freude? Gehe ich jeden Tag in die Uni, weil die Vorlesungen mich mit irgendetwas erfüllen? Ich frage Dave nach Rat, der jetzt die Leute begutachtet, die herumstehen und seine Werke anstarren. In seiner engen roten Hose, den langgezogenen Socken und seiner dicken Hornbrille passt er wunderbar in das Bild aus bunten Leuten, die sich leise über Kunst unterhalten. Ich klage Dave mein Leid. "Was ist, wenn ich mein Leben damit verbringe, in die Universität zu gehen, mich zu bilden und dann irgendwann, wenn ich alt bin, feststelle, dass es mich viel glücklicher gemacht hätte, etwas Künstlerisches zu machen so wie du?"
Dave zieht seine sauber zurechtgezupften Augenbrauen hoch und betrachtet mich kritisch. "I don't know", meint er, "ob das so dein thing wäre mit der Kunst." Dave verwendet manchmal gerne Anglizismen, obwohl er Deutscher ist, ich weiß auch nicht genau warum.
"Aber woher weiß man, was sein "thing" ist? Ich habe es doch noch nie ausprobiert. Ich habe auch noch nie... Seil getanzt oder Klavier gespielt. Wieso habe ich mich gerade dazu entschieden, jeden Tag in die Uni zu gehen?"
"Das verstehe ich auch nicht", sagt Dave. "An deiner Stelle fände es da ja auch super boring. Dieser ganze Haufen von intellektuellen Typen, die über die Welt philosophieren... that's no life. Das kann einen doch nicht erfüllen."
"Und woher weißt du, dass deine Kunst dich richtig erfüllt? Dass sie das Beste ist, für das du dich entscheiden konntest?"
"Das ist so ein feeling. So was spürt man einfach, wenn man Künstler ist." Dave sieht fast liebevoll auf das Foto vor ihm, noch eine Mauer mit Graffiti. "Du spürst doch, wenn dich was voll und ganz erfüllt. Und dann... just do it! Einfach in den Tag leben, das feeling feelen. Das ist life."
"Aber denkst du denn nie daran, dass es vielleicht etwas gäbe, dass noch... besser ist? Das dich noch mehr erfüllen würde?"
Dave denkt eine Weile darüber nach. Er kippt sein Sektglas herunter. "Nee", sagt er schließlich. "Ich bin Künstler und das ist mein Leben. Das spüre ich. Das ist dieses feeling, verstehst du?"


Ich bin mir nicht sicher, ob Dave mir mit meinem Problem so gut weiterhelfen kann und da es mich immernoch beschäftigt, während ich weiter brav meinem Alltag nachgehe, in Vorlesungen sitze, zu Hause Bücher lese und mir dabei vorstelle, dass es gerade wohl ungefähr ein paar hundert oder tausend anderer Sachen gäbe, die ich ebenfalls tun könnte, beschließe ich, meinen Freund Savinda um Rat zu fragen.

Savinda arbeitet in einem Yogastudio in Schöneberg und er freut sich jedes Mal, wenn man ihm Fragen stellt, die irgendwie mit dem Sinn des Lebens oder so etwas zu tun haben.
Savinda schreitet wie immer barfuß und in seinen orangenen Flatterhosen über dem blankgegeputzten Laminatboden des Studios auf mich zu. Wir setzen uns auf zwei Kissen am Boden, er legt die Beine übereinander und hört mir eine Weile aufmerksam zu während ich ihm erzähle, was mir auf dem Herzen liegt.
"Ich weiß nicht mal, wie ich meine Entscheidungen treffe", sage ich. "Irgendwie scheint sich alles immer irgendwie zu ergeben. Warum habe ich mich dazu entschieden, zu studieren und nicht... irgendetwas anderes zu tun? Und wie kann ich wissen, was das Beste für mich ist?"
Savinda schaut mir tief in die Augen. "Kim", sagt er mit sehr ruhiger Stimme. "Es gibt doch immer unendlich viele Möglichkeiten, was du tun könntest."
"Und wie kann ich wissen, was das Beste ist?"
"Das Beste", sagt Savinda kopfschüttelnd. "Das Beste und das Gute gibt es doch gar nicht. Das gehört alles zusammen. Alles ist eins, das weißt du doch. Ob du Kunst machst oder ob dein Freund Dave Kunst macht, das ist das gleiche." Er kreist mit dem Armen, wie um mir das Ausmaß seiner Worte begreiflich zu machen. "Ob du zur Uni gehst oder in einem Supermarkt arbeitest... im Großen und Ganzen betrachtet, ist das alles eins, Kim. Es ist nicht wichtig, was du machst, sondern wie du es machst. Du musst alles, was du machst, mit vollem Bewusstsein machen, verstehst du? Mit Hingabe." Er schaut mich so durchdringend an, dass mir die Augen davon tränen.
Ich denke eine Weile nach. "Aber meine Freundin Ginny sagt, dass alles, was die Leute machen, ständig irgendetwas verändert", wende ich ein. "Sie sagt, wenn die Leute aufhören würden, abends fern zu sehen und statt dessen gegen Krieg demonstrieren und so etwas, dann würde sich die ganze Gesellschaft verändern."
"Die Gesellschaft", meint Savina etwas verächtlich, "mag sein, mag sein. Aber man muss den ganzen Kosmos betrachten, nicht nur die Gesellschaft. Wir alle sind ein kleiner Teil des Kosmos. Du bist das Universum, Kim. Und dem Uniersum ist es egal, ob du fern siehst oder demonstrieren gehst."
"Dann ist es ganz egal, was wir uns entscheiden zu tun?"
"Du musst dich immer für die Liebe entscheiden", mein Savinda. "Liebe und Hingabe. Das ist es, was zählt."
"Und was ist mit dem Glück? Ist das nicht auch wichtig?"
"Liebe und Hingabe machen doch glücklich."
"Aber es gibt doch Dinge, die mich glücklicher machen als andere. Wenn ich jeden Tag in einem Supermarkt sitze, dann macht mich das bestimmt weniger glücklich, als jeden Tag im Wald spazieren zu gehen."
"Ja selbstverständlich. Im Wald bist du dem Kosmos ja auch ganz nah. Im Wald bist du voller Energie, voller Bewusstsein, voller Hingabe." Savinda wirft beim Sprechen die Hände in die Luft, um kleine Energiebälle darzustellen.
"Und im Supermarkt kann ich das nicht sein?"
Savinda verdreht etwas die Augen. Normalerweise mag er Fragen, aber wenn man zu oft fragt, geht ihm das auf die Nerven.
"Kim, du solltest anfangen, Yoga zu machen. Deinen Geist frei machen von allem. So findest du wahre Erfüllung."
Er legt die Hände aufeinander und beugt lächelnd den Rücken. Damit erklärt er das Gespräch für beendet. Mit flatternder Hose schreitet er davon.


Sehr viel mehr weiß ich nach den Unterhaltungen mit Dave und mit Savinda auch nicht. Ich denke darüber nach, Ginny noch nach Rat zu fragen aber ich habe den vagen Verdacht, dass mich auch das nicht wirklich weiter bringen wird. Es ist ja nicht schlecht, in die Uni zu gehen, danke ich. Und Savinda hat auf jeden Fall recht damit, dass man wohl schlecht alles ausprobieren kann, was es auf der Welt zu tun gibt. Vielleicht sollte ich wirklich mal Yoga machen oder zumindestens darauf achten, mit viel Hingabe in der Vorlesung zu sitzen und den Professoren mit ganzem Herzen zuzuhören. Und vielleicht mal probieren, ob mich Mandolinespielen nicht zufälligerweise noch mehr erfüllt als das.