"Ich verstehe die Welt nicht
mehr", sagt Tante Herda.
Wir sitzen im Cafe Bilderbuch und
beobachten ein Mädchen, das vor einem kleinen aufklappbaren Computer
sitzt und mit leiser Stimme auf seinen Bildschirm einspricht. Darauf
ist ein junger Mann zu sehen, der offenbar vor einer Kamera steht und
zu dem Mädchen spricht. Im Hintergrund kann man die Spitze des Big
Bens aus London erkennen.
Tante Herda, die eigentlich gar nicht
meine Tante ist, sondern die Großmutter eines Freundes mit der ich
ab und zu Kaffee trinken gehe, war vor ein paar Jahren in London,
deshalb erkennt sie den Big Ben sofort. Ungläubig starrt sie das
Mädchen mit dem Laptop an. "Redet die etwa gerade mit dem
jungen Mann, der da in London sitzt?"
"Ähm, ich glaube schon." Mir
fällt ein, dass Tante Herda sicher keine Ahnng hat, was ein
Skypegespräch ist. “Das funktioniert übers Internet, verstehst
du...? Telefonieren mit dem Computer. Das geht auch mit Kamera."
"Die Welt ist doch verrückt
geworden." Kopfschüttelnd schneidet Herda ein Stück von dem
Rhababerkuchen ab, der vor uns liegt und schiebt sich genüßlich
ihre Gabel in den Mund. Einen Moment lang lächelt sie zufrieden.
"Schön schmeckt der." Sie fährt sich über die Lippen,
die wie abgestimmt zu der blassrosa Farbe des Rhababers passen.
"Weißt du Kim, was ich früher immer zu meinen Kindern gesagt
habe? Stellt euch mal vor, wenn man telefonieren könnte und sich
dabei sehen würde!" Sie stößt ein heiseres Lachen aus. "Und
jetzt geht das wirklich, sagst du? Das ist doch unglaublich! Ein
Wunder!" Sie kneift die Augen zusammen und beäugelt argwöhnisch
das Mädchen mit dem Computer.
Ich
nicke, obwohl ich es gar nicht so verwunderlich finde, was das
Mädchen da tut. Ich skype durchaus selbst gerne, gerade mit Freunden
die nicht in Berlin in Deutschland wohnen. Da ist es schon ziemlich
praktisch, sich übers Internet unterhalten zu können. Im Gegensatz
zu Tante Herda finde ich das nicht unglaublich, sondern relativ
normal.
Ich
muss unweigerlich an meinen Freund Oscar denken, der fast permanent
mit seinem Handy in Kontakt ist und damit im Internet herumstreunert.
Er ist rund um die Uhr vernetzt, wie er das nennt, empfängt
Nachrichten oder treibt sich auf den virtuellen Seiten von anderen
Leuten herum. Tante Herda fände das sicher sehr eigenartig.
“In
meiner Zeit”, murmelt Herda nachdenklich, “da war alles ganz
anders. Da gab es keine Kompjuter und Mehls... Als ich ein junges
Mädchen war, da hatten wir keinen Fernseher! Kannst du dir das
vorstellen, Kim?” Ihr Blickt zuckt durch den Raum, der gefüllt ist
von Leuten die Kaffee trinken und Zeitung lesen und sich leise
unterhalten. Klassische Musik dringt aus einem Lautsprecher an der
Wand, an der sich große Regale mit Büchern stapeln. Eine Kellnerin
eilt hektisch mit einem Tablett umher. Unsicher fährt Herda mit den
Fingern über den Stoff des alten Sofas, auf dem sie sitzt. “Die
Welt sieht noch ein bisschen so aus wie damals, aber ich glaube, es
ist doch nicht mehr diesselbe.”
“Du
meinst, die Welt ist eine andere geworden?” Ich schiebe mir ein
Stück Kuchen in den Mund und versuche mir vorzustellen, wie die Welt
aus Herdas Augen wohl aussehen muss. Mit all der Technik, die es noch
nicht gab als sie großgeworden ist. muss das sein.
Herda
nickt bekräftigend. “Natürlich. Man versteht doch gar nicht mehr,
wo die Leute alle hin sind!”
“Wie
meinst du das, wo sie hin sind?”
Herda
deutet mit ihrem lachsfarben lackierten Fingernagel auf das skypende
Mädchen. “Ist die jetzt hier oder ist die in London oder irgendwo
in ihrem Netz? Man versteht das doch alles nicht mehr. Ich
glaube, die Welt ist wirklich aus den Fugen geraten.” Fast
ängstlich senkt sie die Stimme “Jeden Abend in der Tagesschau sehe
ich diese ganzen Kriege. Terroristen. Die Umwelt geht kaputt. Die
Banken haben kein Geld mehr..." Sie piekt einen Kuchenkrümel
von ihrem Teller auf. "Da weiß doch selbst die Merkel nicht
mehr, was sie tun soll. Wo soll das alles denn nur hinführen? Meinst
du, es gibt Leute, die das noch verstehen?"
Ich
zucke die Schultern. Eine gute Frage, finde ich. “Aber Kriege und
Umweltzestörug und so etwas, das gab es doch schon immer, meinst du
nicht? Nur, früher wusste man nichts davon, weil es kein Fernsehen
und Internet gab, um all die Informationen zu verbreiten... Die Welt
ist heute vernetzt und wir sehen einfach mehr von dem, was da ist,
schätze ich”
Globalisierung, schießt es mir durch den Kopf. Ich sage aber nichts aus Angst, Herda noch
mehr zu verunsichern. Das Wort klingt nach sehr viel Komplexität, nach sehr viel
Undurchschaubarkeit. Zu viel Entwicklung, zu viele Informationen, ständig und überall.
Kann das noch irgend jemand überblicken? Wahrscheinich nicht.
Ist es schlimm, dass gar niemand den Überblick hat? Vielleicht nicht, vielleicht hat sich
wirklich gar nicht so viel an der Beschaffenheit der Welt an sich geändert.
Nur, dass wir jetzt ein bisschen mehr über sie wissen. All das Wissen,
die ganzen Experten, alle haben sie ein bisschen Spezialwissen...
Müssen wir das Wissen irgendwie zusammen bringen?
Oder reicht es, dass verschiedene Leute Spezialwissen haben?
Die Welt scheint ja zu funktionieren. Irgendwie.
"Vernetzt...",
murmelt Herda verständnislos. "Ich verstehe das alles nicht
mehr. Diese Sprache... diese ganze Elektronik... die
Wirtschaftskrise, Klimawandel... Ich bin ja nicht mehr so lange von
dieser Welt." Ihre blassrosa Lippen zittern ein bisschen und ich
drücke ihre Hand. "Aber ich hoffe für euch, für die
zukünftigen Generationen, dass es Menschen gibt, die das alles
verstehen." Sie schaut mich mit einem hoffnungsvollen Blick an.
"Du studierst doch Philosophie, oder Kim?"
Ich
nicke. "Ja schon, unter anderem."
"Ihr
Philosophen wollt doch immer die Welt verstehen, oder? Du wirst
herausfinden, was in der Welt passiert, oder? Alles wird gut."
Ich
drücke ihre Hand. "Ja, Tante Herda. Alles wird gut."
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