Mittwoch, 2. Oktober 2013

Kommentar Kim: Über die Komplexität der Welt

Wenn ich versuche, den Zeitgeist in dem ich gerade lebe zu beschreiben, so würde ich ihn mit dem Wort Komplexität wohl am besten fassen. Wir Menschen, so scheint es, stehen an der Spitze unserer Entwicklung und müssen gleichzeitig mit der Unmöglichkeit kämpfen, all die Erkenntnisse unserer Zeit zu verarbeiten und mit ihnen zu leben.
Die Naturwissenschaften haben uns durch die Entwicklung von Technik und durch die Ergebnisse ihrer Untersuchungen ein unüberschaubares Maß an Wissen ermöglicht, zu dem wir theoretisch alle Zugang haben.
Wir leben im Zeitalter der Globalisierung, die viele kleine Teile miteinder vernetzt. Durch Medien, Zeitung, Fernsehen, durch moderne Kommunikation, durch Internet und Telefon, durch Transportmöglichkeiten mit denen wir in kürzester Zeit um den Globus reisen können, durch all das können wir, so scheint es, die Welt überblicken. Die Welt im Großen und Ganzen sehen. 



Wir beobachten im Fernsehen die Gräultaten in Syrien, wir chatten mit Freunden in den USA, wir sehen Livestreams von Demonstrationen in Istanbul. Wir lesen, dass die Neurobiologie festgestellt hat, dass es letztendlich keine freien Gedanken und Ideen gibt, denn alle geistigen Zustände basieren letztendlich auf chemischen Prozessen im Gehirn. Wir hören von der Wirtschaftskrise, von Krieg und Hunger, wir lesen, dass das Universum 12 Milliarden Jahre alt ist und der Mensch nur einen minimalen Augenblick davon existiert. Auf der Straße begegnen uns die unterschiedlichsten Lebenskonzepte, Väter die Kinderwägen schieben, Karrierefrauen mit I-Phone am Ohr, Yogimeister die von Erleuchtung sprechen, Motzverkäufer vor dem Supermarkt. Man spricht von Werten wie Ehre, Religion und Freiheit und Selbstbestimmung. In der Schule lernen wir, dass der Mensch vom Affen abstammt und entscheiden zwischen Ethik und Religionsunterricht. Jeder beliebige Begriff, den wir bei Google eintippen, liefert uns in Sekundenschnelle eine Erklärung. Wir können so viel wissen und hören so viel.

Und ich bin ich ein Mensch mit einem Alltag in Berlin. Ich gehe zur Uni, ich treffe Freunde, ich blättere in Zeitschriften um mich über belanglosen Tratsch zu amüsieren. Ich schaue jeden Abend die Tagesschau, habe vage Pläne für die Zukunft, will einen Job mit Prestige und Geld verdienen, vielleicht eine Familie gründen, irgendwie die Welt verbessern. Ich stehe jeden Tag auf, trinke Fairtrade Kaffee und Biomilch aus Rücksicht auf meine Umwelt, ich kaufe Essen im Discounter um Geld zu sparen, ich sitze im Park und genieße die Sonne, ich treibe Sport um nicht zuzunehmen, ich diskutiere in der Uni über große Weltprobleme, ich schaue Filme über Israel und sehe mir im Kino Komödien an. Das ist meine Lebenswirklichkeit.



Die Welt, in der ich lebe, scheint sich irgendwie in zwei Extreme aufzuteilen. Es gibt die große Welt da draußen, mit dem Wissen der Naturwissenschaften, mit Kriegen und Debatten, der philosophischen Erkenntnis dass Gott tot und Sinn höchstens subjektiv ist. Und es gibt meinen kleinen Alltag, in dem mir wichtig ist, was ich heute Abend esse, ob ich auf einer Party jemanden kennen lerne, was ich morgens anziehe und wann ich die nächste Hausarbeit endlich abgeben kann.
Wie könnte man diese großen Extreme besser auffassen als mit dem Wort Komplexität?
Die Welt ist komplex und weil wir all das Wissen, zu dem wir irgendwie Zugang haben, nicht verarbeiten und unmöglich alles selbst verstehen können, verlassen wir uns auf die Worte von Experten. Experten haben die Eigenschaft, vermeintlich verworrene Dinge als bündige Fakten in abgeschlossenen Einheiten zu präsentieren. Die Wirtschaftskrise, der Klimawandel, die Wirkung vom Gehirn auf unsere geistigen Zustände, Kriegsberichte aus Afrika, die Entstehung des Universums. Überall liefern uns Experten scheinbar abgeschlossene und vollständige Erklärungen. 
Sobald man ein bisschen genauer hinsieht, erkennt man, dass die großen Fragen bleiben. Alle Theorien weisen Lücken auf – je komplizierter die Begriffe, desto verworrener die Bedeutungsmasse, auf die sie hinweisen. Letztendlich also viel Schall und Rauch. Der Klimawandel ist eigentlich nur ein Diskurs, Kriegsberichte stellen bloß subjektive Erfahrungen einzelner Reporter da, Statistiken basieren auf Stichproben geringer Anzahlen von Menschen, wir können bloß Korrelationen zwischen Emotionen und Gehirnströmen messen, die Evolutionstheorie weist Lücken im Sprung vom Affen zum Menschen auf, die Urknalltheorie basiert auf Grundannahmen die sich letztendlich nicht beweisen lassen, es gibt Placeboeffekte, Nahtoderfahrungen und Selbstheilungsprozesse die niemand versteht. 


Und auch mein eigenes kleines Leben ist komplex und widersprüchlich. Meine Persönlichkeit wandelt sich mit den Leuten, die ich treffe, ich sehe einen Film und ändere meine Meinung zum Fleischkonsum, ich will eigentlich Künstler sein und arbeite in einem Büro am Computer, wenn die Sonne scheint bin ich glücklich und zufrieden, wenn es grau wird und beginnt zu regnen werde ich trübsinnig und einsam, ich will eigentlich Familie aber doch frei und selbstständig sein, ich vermisse meine Mutter aber werde wütend, wenn wir zu lange telefonieren, mich inspiriert die Natur und ich bin ständig in der Stadt, ich weiß, dass Geld nicht glücklich macht und verfasse Bewerbungen für besser bezahlte Jobs.
Was soll das alles? Ich sehe diese Wirklichkeit, in der ich lebe, ich sitze hier und versuche, vor meinem inneren Auge ein Bild zu entwerfen von der Welt, in der ich bin. Angestrengt bemüht, der Tiefe meiner Gedanken zu folgen und ein klares Bild zu zeichnen rauscht die Zeit, und ich weiß schon, dass ich bald abschweifen werde, um mich anderen Dingen zuzuwenden, dem Sportkurs am Abend und dem Treffen mit meiner Freundin, unabhängig davon, ob ich mit meinen Überlegungen gerade weiterkomme oder nicht. In eben diesem Moment, jetzt also, in dem ich mir der Komplexität meiner Lebenswirklichkeit für einen Augenblick so klar bewusst bin, versuche ich, ganz scharf darüber nachzudenken, ob das alles irgendeinen Sinn ergen kann. Irgendeine Bedeutung, eine Erklärung, Begründung, etwas Höheres das mir all diese Widersprüche, dieses wirre Bild erklärt. Eine Antwort auf alle Fragen.
Natürlich finde ich keine Antwort. Ich habe keine plötzliche Gotteserfahrung, spüre keine Eingebung, keine mystische Kraft die mir irgendetwas sagt. Ich schaue aus dem Fenster, draußen scheint die Abendsonne und wirft ein warmes Licht gegen die Häuserwände. Ein schönes Bild, ein gutes Gefühl. Mir kommt ein neuer Gedanke. So unbefriedigend es ist, keine Antwort zu kennen, keinen Sinn zu sehen, keine Erklärung für diese unüberschaubaren Wirrungen, den vielen Rätseln der Natur und der Psyche – ist das nicht auch ein schöner Gedanke? Bei all dem Wirrsal; ist es nicht immerhin nett, zu wissen, dass selbst die großen Erklärungen begrenzt sind? Dass die Naturwissenschaften die Welt und uns Menschen nicht vollständig erklären können? Dass die Welt und wir Menschen in ihr komplex sind, rätselhaft und undurchschaubar... Lässt diese offene Lücke nicht auch Platz für eine offene Möglichkeit? 


Denn was wäre die Alternative? Ein vollständig erklärendes Weltbild das alle Fragen löst? Eine Welt in der es keine Fragen mehr gibt? Aber offene Fragen lassen Antworten offen. Das Denken der Möglichkeit also, dass es eine Bedeutung gibt, einen Sinn, der über all das hinaus geht was wir erkennen und der angesichts der ganzen Komplexität der Welt auch selbst so komplex und ungreifbar sein muss, dass ich ihn hier und jetzt mit meinem Verstand nicht begreifen kann. Die undurschaubare Rätselhaftigkeit der Welt erweckt in mir einen Funken von Hoffnung auf Sinn.