Freitag, 26. September 2014

Kommentar Kim: Wenn die Welt nicht mehr schlummert


Verzweifelte Gesichter starren mir von meinem Laptopbildschirm entgegen. Menschen auf der Desktopoberfläche, deren hilflose Körperhaltung jene Angst ausdrückt, die sie im Moment des Fotoschusses verspürt haben müssen. Sie sind von vermummten Gestalten umzingelt.
Ein bisschen Scrollen, ein Foto mit Bierkrug – zehn Tipps zur Vorbereitung auf das Oktoberfest. Ewas weiter das Bild eines ausgemerzten Mannes, der auf einem Krankenbett liegt. Die Welt ist verrückt – wer das bestreitet, hat nie in vollem Bewusstsein seine Facebookchronik durchforscht.

 
 Ich stoße auf eine Onlinepetition gegen Folter, unterschreibe beim synchronen Öffnen einer Email im Posteingang. Oscar fragt, ob wir morgen ins Kino gehen; Gedanken an aktuelle Hollywoodblockbuster durchkreuzen die schauderhaften Folter-Assoziationswellen in meinem Kopf.
Spiegelonline konfrontiert mich mit dem verpixelten Foto eines Mannes, der laut Bildunterschrift gerade hingerichtet wurde. Mein Magen dreht sich um, ich klappe den Laptopbildschirm zu und eile in die Küche, um den morgendlichen Kaffee aufzusetzen.

 
Ärger über die unausgeräumte Spülmaschine verdrängt das unbehagliche Gefühl in der Magengrube das sich erst wieder beim Zähneputzen regt. Als hätte sich der bittere Geschmack der unausweichlichen Tatsache, dass in dieser Sekunde irgendwo auf der Welt Menschen Furcht und Schrecken leiden, in die scharfe Minzpasta gemischt. Man sollte sich gut überlegen, ob man vor dem ersten Kaffee aktuelles Weltgeschehen verfolgt.
 
Spätestens in der U-Bahn ist das Gefühl des Unwohlseins verschwunden; ob ich will oder nicht ärgere ich mich über den belebten Mann neben mir, der geräuschvoll seinen Döner verdrückt. Träge Gedanken kreisen zu dem Vortrag, den ich nachher halten muss und mein Magen rumort fast so schlimm wie eben, als ich das Bild des verpixelten Exekutierten entdeckt habe. Einen Moment lang blitzt die Frage in meinem Innern auf, wie es sich anfühlen muss, die Kehle durchgeschnitten zu bekommen. Das Berliner Fenster erlöst mich von meiner fürchterlichen Kurz-Tagesalpträumerei, mit der Mitteilung, dass Paris Hilton auf die Ananasdiät schwört. Immerhin denke ich nun ab frisches Obst.

 
Meine Freundin Ginny steigt in die U-Bahn, wir halten eine Runde Morgensmalltalk über Uniprofessoren und das graue Berliner Wetter. Kurz taucht auf dem Bildschirm an der Decke das selbe Bild der umzingelten Menschen auf, das schon auf Facebook stand und ganz unvorbereitet werde ich von einem unbekannten Schwall von Ohnmachtsgefühlen übermannt.
Ich höre nicht mehr, was Ginny sagt, weil mir für einen grauenhaften Moment vollkommen klar wird, dass es für unzählige Menschen kein Entkommen gibt von Leid und Schrecken. Ich dagegen habe das Glück, am richtigen Ort zu sein und mir Gedanken über Univorträge und Ananasdiäten machen zu dürfen.
 
Wieso ist die Welt so schrecklich? Ist sie das überhaupt – oder kommt sie mir gerade nur so vor, weil ich nach dem Aufstehen von grausigen Bildern überrannt wurde, die mein Weltbild verzerren?  Immerhin habe ich heute noch keinen Bericht von ganz normalen Menschen gelesen, die irgendwo am Frühstückstisch sitzen, einen Waldspaziergang machen, Bücher lesen oder ihre Kinder zur Schule fahren. Leute in Kambodscha und Australien und Japan und im Nachbarhaus, die ihr vollkommen friedliches Leben leben.

 
Böse war die Welt schon immer, sagt Ginny – zu allen Zeiten hab es Mord und Folter und Krankheit. Verrückt kommt uns das vor, weil wir jetzt per Knopfdruck ganz direkten Zugang zum Grauen haben, während unsere Alltagswelt in Friede, Freude, Eierkuchen schwelgt.
 
Gewalt gibt es also ständig, nur wenn ich Bilder und Berichte sehe, betrifft es mich plötzlich wie auf mysteriöse Weise und reißt mich aus lockerleichtem Alltagsgeplätscher. Dabei sterben seit Jahren Menschen in nordkoreanischen Arbeitslagern und ägyptischen Folterzentren. Doch lassen mich diese Fakten erschreckend kalt –im Gegensatz zum IS Terror oder Ebola. Weil ich damit durch meinen Computerbildschirm und das Berliner Fenster konfrontiert werde, Medien katapultieren erschreckende Realität mitten in meine heile Alltagswelt. Dann packt mich plötzlich ein Anfall von Mitgefühl, so stark fast, als wären es Freunde, die irgendwo da draußen leiden. Fast ist es, als würden die Zeitungen und Fernsehfilme unsichtbare Fäden spinnen, die mich mit diesen Menschen verbinden.

 
Wie also weiterleben, wenn einen die Gewissheit nicht mehr loslässt, dass Böses allgegenwärtig ist, an so vielen Orten auf der Welt?
 
Das Böse gab es immer, zu jeder Zeit, sagt Ginny. Im Mittelalter, im Nationalsozialismus und überall dazwischen. Die Welt erscheint uns böse, wenn wir von all dem Schrecken hören, der geschieht.
 
Vielleicht aber bewahrt uns das Hören und Sehen auch davor, die Augen zu verschließen. Es drängt zum Mitfühlen. Und plötzlich ist da Verbundenheit. Zu Menschen, die mir fremd sind, die irgendwo leiden auf der Welt.
 
Und zwischen dem unbehaglichem Magengrummeln, das mein morgendlich geruhsames Kaffeeritual zerstört, weil Bilder des Schreckens sich in meine belanglosen Gedanken zu Geschirrspülmaschinen und Univorträgen mischen, irgendwo da beginnt ein Drängen. Ein Flüstern, das nicht mehr ganz verstummt. Es wispert, dass ich die Augen nicht lange verschließen kann. Bilder sind unwiderruflich vorhanden. Sie rütteln eine schlummernde Welt auf. Und drängen zum Weiterdenken, auch wenn bei den Nachrichten der Sportteil beginnt.
 
Zum Nachdenken und Mitfühlen. Und zum Handeln gegen das Übel in der Welt, statt in Alltagsgepläscher zu versinken. Neben Kaffeetrinken und Vorträgen Verantwortung zu übernehmen, das Leid nicht hinnehmen, das überall geschieht. Bilder lassen nicht mehr los.
Kämpfen gegen das Böse, das immer schon da war und mir nur plötzlich ganz unmittelbar bewusst wird.

 
 
Alles Leben ist Leid, sagt mein Freund Savinda, und schafft es trotzdem irgendwie, fast immer heiter zu sein. Sein Rezept ist Mitgefühl. Vielleicht fange ich langsam an zu verstehen, was er damit meint.

Dienstag, 29. Juli 2014

Kommentar Kim: Zeit im Sommer


Im Sommer scheint die Zeit verrückt zu spielen.

Obwohl die Tage so viel länger sind, verrinnen Juni, Juli und August zwischen den Fingern wie der Schweiß, der sich auf den Hautporen sammelt. Lauwarme Nächte ziehen vorbei, heiße Nachmittage unterm Schatten der Sonnenschirme, Morgenstunden in denen ich von Hitze aus dem Bett getrieben werde. Ein paar Male in den See springen, schon wechselt ein Monat den nächsten ab.
 
Und doch sind da so viele Momente, in denen die Zeit stehen bleibt. Sich ausdehnt, langsam und genüsslich wie eine große bunte Seifenblase. Ich ziehe durch Berlin und sehe Menschen in Cafès, schweigend mit der Zunge über ihre Oberlippe fahrend um den Schaum des Cappucchinos fortzuwischen, schweigend in die Sonne blinzelnd, mit geschlossenen Augen. Berliner lächeln plötzlich vor dem Supermarkt, bleiben stehen um dem Motzverkäufer ein paar Cents zuzustecken, weil sie selber so zufrieden sind. Am Maybachufer liegen Pärchen, stundenlang aufs schmutzig grüne Wasser starrend. Ich sehe in den wolkenlosen Himmel und lasse Gedanken vorbeiziehen wie die schwache Brise, die ab und zu durch die Bäume weht.

 
Dann sind da die Erinnerungen an vergangene Sommer, De-Ja-Vùs von ganz genau diesen Momenten. Tagsüber barfuß auf warmem Asphalt schlendern, abends den Grillen beim Zirpen zuhören, Augenblicke die im Herbst zerplatzen wie die Seifenblasen auf  den Open-Airs auf denen junge, schöne Menschen zu Elektromusik tanzen. So zauberhaft die Momente auch sind, im Verlauf der Jahre merke ich, dass sie sich wiederholen. Ich sitze an denselben Orten in der Sonne, wandere durch dieselben warmen Straßen mit denselben zufriedenen Gedanken, denselben glücklichen Leuten um mich herum.

 
Manchmal überkommt mich im Sommer diese seltsame Melancholie. Weil ich merke, wie schnell die Zeit verrinnt und dass sich wenig wirklich ändert. Vielleicht wäre es Zeit für etwas Neues. Endlich das verwirklichen, wovon ich träume, wenn das Gras mich an den Füßen kitzelt und ich mein Gesicht dem Licht entgegenstrecke. Die langen Tage nutzen, um große Pläne zu realisieren. Handeln statt Momente auszudehnen. Kreativ sein statt nur dazusitzen und zu tanzen.

 
Im Sommer überkommt mich das Gefühl, die stehen gebliebene Zeit im richtigen Augenblick ergreifen zu müssen, weil sie vorbeizieht wie ein rasender Zug. Träume in Realität verwandeln, weil das belanglose Träumen unter wolkenlosem Himmel mir die Kraft schenkt, Träume zu verwirklichen. Ein Paradox. Savinda sagte mal, Zeit sei eine Illusion. Vielleicht entblößt sich der Charakter ihres Scheins in der Verrücktheit, die Zeit im Sommer zu spielen scheint.

Donnerstag, 17. Juli 2014

Streifzug Kim: Und der Ball rollt ins Netz


Schon lange habe ich nicht mehr so viele Menschen weinen sehen, wie in den letzten paar Wochen. Mal waren es Freudentränen, mal Sturzbäche der Enttäuschung, manchmal aufrichtige, bodenlose Verzweiflung die einem das Herz zerschnitt. Gleiches gilt für Freude und Jubel. Springende Menschen die sich in die Arme fallen, Entzückungsschreie, fassungsloses Staunen vor Entzückung. Selbst die sonst so lässig-gleichgültigen Gesichtsausdrücke der Berliner sind wie verzaubert. Dabei ist es nur ein kleiner Ball, der ins Tor rollt. 


Die Fußball-WM verwandelt die Welt um mich herum, so viel steht fest.

Abgesehen von dem Mehr an öffentlich ausgedrückten Gefühlen im sonst so emotionslosen Alltagsleben, das man in Berlin normalerweise mit bewusst ausdrucksloser Mine durchschreitet - eine Mine auf die man hier sehr stolz ist und die sich selbst durch Nachrichten von katastrophalsten Kriegsgeschehen und Naturkatastrophen im Berliner Fenster höchstens durch ein kurzes Stirnrunzeln erschüttern lässt - abgesehen davon gibt es plötzlich auch ein Gesprächsthema, dass sich durch alle Sphären der Stadt zieht. 


Ob in nächtlichen U-Bahnschächten, tags an der Straße des 17. Juli oder in den Vorlesungssälen der Uni, überall wird das letzte Tor von Müller und die Flanke von Schweini kommentiert. 
Normalerweise ist es schon eine Herausforderung, bei Familienbesuchen ein Thema zu finden, das fünf Leute am Tisch halbwechs interessiert – jetzt liefert jedes neue Deutschlandspiel Gesprächsstoff für ganze Nächte. 
Wie eine eigenartige Seuche hat sich die Präsenz der Weltmeisterschaft unsichtbar in der Stadt ausgebreitet und alle infiziert. 
Selbst diejenigen, die sich explizit als Anti beschreiben, selbst die lassen es sich nicht nehmen, bei beliebiger Gelegenheit das Thema Fußball anzuschneiden, um die Gründe für ihre Anti-Haltung mit der größten Inbrunst politischer Überzeugung darzulegen. 


Meine Freundin Ginny zählt zu diesen Menschen. 
„Ich kann den Fussball-Hype so was von gar nicht verstehen“, betont sie und schaut mit geringschätzigem Blick einem Mann hinterher, der sich von oben bis unten mit einem rot-weiß-gold gestreiften Samtstoff verhüllt hat.

Wir sitzen in einem Cafè am Mehringdamm in Kreuzberg. 

Oscar lauscht wie gebannt dem Moderator aus einem der Fernsehbildschirme um uns herum. Das muntere Geplapper vermischt sich mit dem Lärm der vorbeirauschenden Autos. 
Neben ihm beobachtet Savinda eine Gruppe Halbwüchsiger, die singend vorbeiziehen.

„Deutschlaand, Deutschlaand….“



Ginny funkelt verärgert ihren wehenden Fahnen hinterher. „Echt, wenn die sich mal für irgendwas anderes so einsetzen würden wie für Fußball. Diese ganzen Massen… Die Welt wäre dann so was von anders!“

Oscar wirft ihr einen kurzen, spöttischen Blick zu. „Und für was sollten sie sich bitte einsetzen?“


„Keine Ahnung, könnte ja wohl alles sein, was in der Welt verdammt noch mal scheiße läuft.“ Sie klopft mit ihrer Mateflasche auf den Tisch. „Flüchtlingsrechte zum Beispiel.“

„Ach ja, und bei dem Thema wären sich alle einig, für was man auf die Straße gehen sollte, ja?“ 
Oscar starrt wieder auf den Fernseher, auf dem jetzt ein Meer aus Deutschlandfahnen zu sehen ist. Von nackten Armen werden sie in die Höhe geschwenkt. 

 
„Armutseinwanderung, Sozialschmarotzer, Wachstumgsgefahr… die Debatten gibt’s alle nicht, oder wie? Nö, alles sind sich einig, dass man für mehr Flüchtlingsrechte kämpfen sollte. Tzz.“ 
Er pfeift durch die Zähne. „Wenn die Leute anfangen würden, sich darüber einer Meinung zu sein, für was man kämpfen sollte, dann wäre die Welt sowieso anders.“

Ich sehe meinen Freund interessiert an. „Meinst du, deshalb sind alle so begeistert vom Fußball? Weil es eine Sache ist, in der es keine“, ich suche kurz nach dem richtigen Wort, „moralischen Konflikte gibt?“


Ginny beginnt, laut zu husten.

„Kann sein. Auf jeden Fall ist es heutzutage das einzige, das alle irgendwie zusammenhält, oder?“


Ich muss eine Weile über Oscars Worte nachdenken. Tatsächlich ist es doch faszinierend, dass diese Weltmeisterschaft so viele Menschen berührt. 

Ich schaue ein paar Mädchen mit grell blondierten Haaren hinterher, die im Chor „Schalalalala“ gröhlen. 
Zwei ältere Damen mit Plüschhüten in Deutschlandfarben auf dem Kopf schlendern vorbei. 
Ein flanierendes Paar in Krawatte und Stöckelschuhen bleibt stehen und späht auf den Fernsehbildschirm. 
So verschiedene Menschen aus den verwegensten und verwinkelsten Ecken der Gesellschaft, und alle fiebern sie mit. Nur weil ein paar Spieler ein Spielchen spielen. 
Was ist es, das uns alle an der Weltmeisterschaft begeistert? Oder sind wir deshalb so begeistert, weil sie alle bewegt? 


Was sonst reist so viele Menschen mit? 
Schulunterricht fällt aus, Arbeitszeit wird abgesagt, bloß weil irgendein Halbfinale stattfindet. In der Bar am Kottbusser Tor gibt es Umsonst-Shots für alle, wenn Deutschland ein Tor schießt. 
Die gewöhnlichen Regeln des Alltags werden für kurze Zeit ausgesetzt und durch Spielregeln ersetzt.

Nicht nur in dieser Stadt, sondern in weiten Teilen auf der Welt!



„Wir leben in the Postmoderne“, hat mein Künstlerfreund Dave neulich gesagt, „where everything goes. Alles driftet auseinander. Glauben, Religion, Lebenskonzepte, Vorstellungen… Jeder lebt in seiner eigenen Welt.“

Vielleicht hat Dave Recht – ist Fußball deshalb so populär? 

Weil es das einzige übriggebliebene Teilchen ist im zerrüttelten Mosaik der globalisierten Welt, das alle irgendwie verbindet? 
Ein Symbol, an das wir uns inmitten unserer individualisierten, postmodernen Einsamkeit festklammern?

Aber wieso? Wieso gerade diese Sportweltmeisterschaft? 
Weil Fußball so einfach ist? Ein Ball, ein Tor und klare Regeln. Ein Gewinner und ein Verlierer. 
Es gibt weder moralische Debatten noch aufeinanderprallende Überzeugungen um die man streiten muss. 
Das Konzept ist gesetzt und unverwüstlich, wie ein gottgegebenes Gesetz, an das alle glauben.


„Als ob das so wäre“, brummt Ginny und reißt mich aus meinen Gedanken. „Als ob es beim Fußball nicht um Moral und Politik gehen würde – das wird doch bloß verdrängt. Habt ihr die ganzen Proteste nicht gesehen, in Brasilien, wo die Menschen auf die Straße gehen, weil Millionen in neue Fußballstadien gesteckt werden statt in Krankenversorgung für die Leute in den Vawelas?“


„Das ist traurig“, nickt Savinda betrübt.



„Und trotzdem siehst sogar du dir die Fußballspiele an!“ Ginny wirft ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. „Dabei sollte man die Spiele boykottieren!“ Sie dreht dem Fernseher neben ihr demonstrativ den Rücken zu, ein nicht besonders erfolgreich Unterfangen, weil sie sich damit gleich zum nächsten Bildschirm gegenüber wendet.



„Aber es ist einfach so schön, wenn alle Menschen sich gemeinsam freuen.“ Savinda hebt entschuldigend die Arme, sein gelber Umhang flattert im Wind. „Dieser Jubel, der alle vereint. Egal, wer um einen herum ist, in dem Moment, in dem der Ball ins Tor schießt – da freuen sich alle zusammen. Plötzlich gibt es keine Trennung mehr.“ Savindas Augen blitzen. „Zwischen meiner und deiner Freude, verstehst du?“


Eine feine Gänsehaut kribbelt mir über den Arm. Wahrscheinlich hat Savinda Recht. 
Es ist ein schönes Gefühl, sich mit so vielen Menschen zusammen über eine Sache zu freuen. Aufzugehen in der geteilten Euphorie einer Masse. Teil von etwas Großem zu sein. 
Auch wenn es nur wegen eines kleinen Balles in einem Netz ist. 
Wahrscheinlich ist der Auslöser für dieses Massenphänomen wirklich egal,  der Ball ist eine Metapher. 
Was zählt, ist das Gefühl der reinen, kollektiven Freude im Moment des Jubels. 


„Aber es wäre doch so viel besser, sich über irgendetwas anderes zu freuen.“ Ginny lässt nicht locker. „Warum gerade über die Herren-Fußball-Weltmeisterschaft? Ein primitives Spiel? Da geht’s doch um nichts! Warum ist es plötzlich wichtig, wer so ein bescheuertes Spiel gewinnt?“


„Du denkst viel zu rational, Ginny“, meint Savinda streng. 
„Es geht nicht um Sinn und Zweck. Glaub mir, in dem Moment, in dem dieser Löwe“ (er deutet auf den Fernsehbildschirm, wo ein Mann im Anzug entzückt die Fäuste in die Luft schlägt) „in dem der sich so freut, da geht es nicht ums Geld oder um seinen Beruf oder die Angst, ihn zu verlieren, wenn seine Mannschaft nicht gut spielt. Zukunftsgedanken spielen da gar keine Rolle mehr.“ 
Savinda schüttelt bedeutungsvoll den Kopf, seie lagen grauen Haare fliegen hin und her. 
„Es geht um den Augenblick. Das, was in dem Moment passiert, das kannst du nicht mit der üblichen Mittel-Zweck-Logik erklären.“ 
Savinda lächelt begeistert in sich hinein. „Das ist ja das Tolle.“ Er schlürft an seinem Mango Lassi Getränk und murmelt dabei schmatzend: „Fußball erinnert uns daran, dass es noch eine andere Logik gibt als die, die wir im Alltag kennen.“


„Trotzdem“, beharrt Ginny eindringlich, „dieser ganze Nationalismus! Leute, die plötzlich Deutschland gröhlen, das ist doch scheiße! Das kannst du doch nicht einfach ausblenden.“

Im Fernsehen wird eine Gruppe von Männern mit Bierflaschen in der Hand gezeigt, die sich Deutschland auf die Stirn gepinselt haben. Der eine brüllt mit hochrotem Kopf: „So sehen Sieger aus, Schalalalala...“


„Mit solchen Asis zusammen will ich mich überhaupt nicht freuen. Und dieser aufflammende Nationalismus macht mir Angst. Gerade bei der Deutschen Vergangenheit!“


„Mann, Ginny – wieso sitzt du überhaupt hier, wenn du alles so scheiße findest“, sagt Oscar genervt. „Wehe, du machst das auch während dem Spiel….“

„Was soll in denn sonst um diese Uhrzeit machen“, meint Ginny beleidigt – „alle schauen Fussball, überall. Es gibt kein Entkommen. Wisst ihr was – ich wette, die Leute würden den ganzen Hype gar nicht mitmachen, wenn sie nicht ständig dazu genötigt würden. Ich sage euch, wenn plötzlich überall – der Schutz des Regenwaldes, oder irgend so was – wenn es da plötzlich Songs und Werbung und den ganzen Scheiß gäbe, da würden alle genauso drauf abgehen! Das ist alles Manipulation von oben!“ 
Sie schnipst in die Finger, wie um ihre Worte geräuschvoll zu untermalen. „Die Leute wollen, dass wir uns für Fußball interessieren, damit wir die wichtigen Sachen vergessen. Und wir machen alle mit! Und produzieren dazu noch mehr Nationalismus, als gäbe es davon nicht schon genug.“


„Na und“, sagt Oscar, „so ist das eben. Der Mensch ist nationalistisch. Wir brauchen was, mit dem wir uns identifizieren. Familie, Ethnie, Nation - so ist das eben. Wieso versuchst du eigentlich ständig, die Natur des Menschen zu ändern? Sei doch froh, dass der Nationalismus beim Fußball so friedlich ausgetragen wird. Nicht wie im Irak, wo die Menschen sich wegen so was die Köpfe einschlagen.“


Savinda schüttelt heftig den Kopf. „Es gehört sicher nicht zur Natur des Menschen, sich mit einer bestimmten Gruppe zu identifizieren. Da muss ich Ginny aber Recht geben.“

„Da glaube ich aber schon“, meint Oscar.

„Aber nein. Das ist alles Illusion. Künstliche Trennung in unseren Köpfen!“ Savinda stößt einen Seufzer aus. 
„Diese ganze Weltmeisterschaft zeigt doch, was für ein großes Potential in unserer Welt steckt. Möglichkeiten der Verbindung von Menschen! Etwas neues Erleben, das nicht unserer normalen Logik entspricht.“ 
Sein Gesicht erhellt sich. „Stellt euch vor, das gäbe es irgendwann auch unabhängig vom Fußball. Ohne Trennung zwischen Nationen, ohne Anlass durch gesetzte Regeln von diesem Fpfiffa-Verein.“


„Fifa“, knurrt Ginny.


Das Spiel beginnt. Am Ende jubeln wir und in dem Moment, in dem die ganze Straße aufschreit, in dem mir der unbekannte alte Mann neben mir glücklich auf die Schultern klopft und Oscar kleine Sprünge macht, in dem Moment wo mein Herz rast und mich grenzenlose Freude durchströmt, obwohl mir dieser Ball im Tor doch eigentlich egal ist, da wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass ich diesen Augenblick festhalten kann. Ich will die Zeit, die plötzlich still steht festhalten, einfangen, um irgendwann wieder eine Prise davon zu verteilen. 
In überfüllten U-Bahnhöfen am Morgen oder den Warteräumen vor dem Jobcenter. Ich verspüre eine tiefe Sehnsucht danach, dass das, was Savinda sagt, wahr wird. Dass es Momente wie diese auch ohne Fußball gibt. 
Wieso kann die Welt nicht immer so sein, wie wenn der Ball ins Tor rollt?