Freitag, 26. September 2014

Kommentar Kim: Wenn die Welt nicht mehr schlummert


Verzweifelte Gesichter starren mir von meinem Laptopbildschirm entgegen. Menschen auf der Desktopoberfläche, deren hilflose Körperhaltung jene Angst ausdrückt, die sie im Moment des Fotoschusses verspürt haben müssen. Sie sind von vermummten Gestalten umzingelt.
Ein bisschen Scrollen, ein Foto mit Bierkrug – zehn Tipps zur Vorbereitung auf das Oktoberfest. Ewas weiter das Bild eines ausgemerzten Mannes, der auf einem Krankenbett liegt. Die Welt ist verrückt – wer das bestreitet, hat nie in vollem Bewusstsein seine Facebookchronik durchforscht.

 
 Ich stoße auf eine Onlinepetition gegen Folter, unterschreibe beim synchronen Öffnen einer Email im Posteingang. Oscar fragt, ob wir morgen ins Kino gehen; Gedanken an aktuelle Hollywoodblockbuster durchkreuzen die schauderhaften Folter-Assoziationswellen in meinem Kopf.
Spiegelonline konfrontiert mich mit dem verpixelten Foto eines Mannes, der laut Bildunterschrift gerade hingerichtet wurde. Mein Magen dreht sich um, ich klappe den Laptopbildschirm zu und eile in die Küche, um den morgendlichen Kaffee aufzusetzen.

 
Ärger über die unausgeräumte Spülmaschine verdrängt das unbehagliche Gefühl in der Magengrube das sich erst wieder beim Zähneputzen regt. Als hätte sich der bittere Geschmack der unausweichlichen Tatsache, dass in dieser Sekunde irgendwo auf der Welt Menschen Furcht und Schrecken leiden, in die scharfe Minzpasta gemischt. Man sollte sich gut überlegen, ob man vor dem ersten Kaffee aktuelles Weltgeschehen verfolgt.
 
Spätestens in der U-Bahn ist das Gefühl des Unwohlseins verschwunden; ob ich will oder nicht ärgere ich mich über den belebten Mann neben mir, der geräuschvoll seinen Döner verdrückt. Träge Gedanken kreisen zu dem Vortrag, den ich nachher halten muss und mein Magen rumort fast so schlimm wie eben, als ich das Bild des verpixelten Exekutierten entdeckt habe. Einen Moment lang blitzt die Frage in meinem Innern auf, wie es sich anfühlen muss, die Kehle durchgeschnitten zu bekommen. Das Berliner Fenster erlöst mich von meiner fürchterlichen Kurz-Tagesalpträumerei, mit der Mitteilung, dass Paris Hilton auf die Ananasdiät schwört. Immerhin denke ich nun ab frisches Obst.

 
Meine Freundin Ginny steigt in die U-Bahn, wir halten eine Runde Morgensmalltalk über Uniprofessoren und das graue Berliner Wetter. Kurz taucht auf dem Bildschirm an der Decke das selbe Bild der umzingelten Menschen auf, das schon auf Facebook stand und ganz unvorbereitet werde ich von einem unbekannten Schwall von Ohnmachtsgefühlen übermannt.
Ich höre nicht mehr, was Ginny sagt, weil mir für einen grauenhaften Moment vollkommen klar wird, dass es für unzählige Menschen kein Entkommen gibt von Leid und Schrecken. Ich dagegen habe das Glück, am richtigen Ort zu sein und mir Gedanken über Univorträge und Ananasdiäten machen zu dürfen.
 
Wieso ist die Welt so schrecklich? Ist sie das überhaupt – oder kommt sie mir gerade nur so vor, weil ich nach dem Aufstehen von grausigen Bildern überrannt wurde, die mein Weltbild verzerren?  Immerhin habe ich heute noch keinen Bericht von ganz normalen Menschen gelesen, die irgendwo am Frühstückstisch sitzen, einen Waldspaziergang machen, Bücher lesen oder ihre Kinder zur Schule fahren. Leute in Kambodscha und Australien und Japan und im Nachbarhaus, die ihr vollkommen friedliches Leben leben.

 
Böse war die Welt schon immer, sagt Ginny – zu allen Zeiten hab es Mord und Folter und Krankheit. Verrückt kommt uns das vor, weil wir jetzt per Knopfdruck ganz direkten Zugang zum Grauen haben, während unsere Alltagswelt in Friede, Freude, Eierkuchen schwelgt.
 
Gewalt gibt es also ständig, nur wenn ich Bilder und Berichte sehe, betrifft es mich plötzlich wie auf mysteriöse Weise und reißt mich aus lockerleichtem Alltagsgeplätscher. Dabei sterben seit Jahren Menschen in nordkoreanischen Arbeitslagern und ägyptischen Folterzentren. Doch lassen mich diese Fakten erschreckend kalt –im Gegensatz zum IS Terror oder Ebola. Weil ich damit durch meinen Computerbildschirm und das Berliner Fenster konfrontiert werde, Medien katapultieren erschreckende Realität mitten in meine heile Alltagswelt. Dann packt mich plötzlich ein Anfall von Mitgefühl, so stark fast, als wären es Freunde, die irgendwo da draußen leiden. Fast ist es, als würden die Zeitungen und Fernsehfilme unsichtbare Fäden spinnen, die mich mit diesen Menschen verbinden.

 
Wie also weiterleben, wenn einen die Gewissheit nicht mehr loslässt, dass Böses allgegenwärtig ist, an so vielen Orten auf der Welt?
 
Das Böse gab es immer, zu jeder Zeit, sagt Ginny. Im Mittelalter, im Nationalsozialismus und überall dazwischen. Die Welt erscheint uns böse, wenn wir von all dem Schrecken hören, der geschieht.
 
Vielleicht aber bewahrt uns das Hören und Sehen auch davor, die Augen zu verschließen. Es drängt zum Mitfühlen. Und plötzlich ist da Verbundenheit. Zu Menschen, die mir fremd sind, die irgendwo leiden auf der Welt.
 
Und zwischen dem unbehaglichem Magengrummeln, das mein morgendlich geruhsames Kaffeeritual zerstört, weil Bilder des Schreckens sich in meine belanglosen Gedanken zu Geschirrspülmaschinen und Univorträgen mischen, irgendwo da beginnt ein Drängen. Ein Flüstern, das nicht mehr ganz verstummt. Es wispert, dass ich die Augen nicht lange verschließen kann. Bilder sind unwiderruflich vorhanden. Sie rütteln eine schlummernde Welt auf. Und drängen zum Weiterdenken, auch wenn bei den Nachrichten der Sportteil beginnt.
 
Zum Nachdenken und Mitfühlen. Und zum Handeln gegen das Übel in der Welt, statt in Alltagsgepläscher zu versinken. Neben Kaffeetrinken und Vorträgen Verantwortung zu übernehmen, das Leid nicht hinnehmen, das überall geschieht. Bilder lassen nicht mehr los.
Kämpfen gegen das Böse, das immer schon da war und mir nur plötzlich ganz unmittelbar bewusst wird.

 
 
Alles Leben ist Leid, sagt mein Freund Savinda, und schafft es trotzdem irgendwie, fast immer heiter zu sein. Sein Rezept ist Mitgefühl. Vielleicht fange ich langsam an zu verstehen, was er damit meint.

Dienstag, 29. Juli 2014

Kommentar Kim: Zeit im Sommer


Im Sommer scheint die Zeit verrückt zu spielen.

Obwohl die Tage so viel länger sind, verrinnen Juni, Juli und August zwischen den Fingern wie der Schweiß, der sich auf den Hautporen sammelt. Lauwarme Nächte ziehen vorbei, heiße Nachmittage unterm Schatten der Sonnenschirme, Morgenstunden in denen ich von Hitze aus dem Bett getrieben werde. Ein paar Male in den See springen, schon wechselt ein Monat den nächsten ab.
 
Und doch sind da so viele Momente, in denen die Zeit stehen bleibt. Sich ausdehnt, langsam und genüsslich wie eine große bunte Seifenblase. Ich ziehe durch Berlin und sehe Menschen in Cafès, schweigend mit der Zunge über ihre Oberlippe fahrend um den Schaum des Cappucchinos fortzuwischen, schweigend in die Sonne blinzelnd, mit geschlossenen Augen. Berliner lächeln plötzlich vor dem Supermarkt, bleiben stehen um dem Motzverkäufer ein paar Cents zuzustecken, weil sie selber so zufrieden sind. Am Maybachufer liegen Pärchen, stundenlang aufs schmutzig grüne Wasser starrend. Ich sehe in den wolkenlosen Himmel und lasse Gedanken vorbeiziehen wie die schwache Brise, die ab und zu durch die Bäume weht.

 
Dann sind da die Erinnerungen an vergangene Sommer, De-Ja-Vùs von ganz genau diesen Momenten. Tagsüber barfuß auf warmem Asphalt schlendern, abends den Grillen beim Zirpen zuhören, Augenblicke die im Herbst zerplatzen wie die Seifenblasen auf  den Open-Airs auf denen junge, schöne Menschen zu Elektromusik tanzen. So zauberhaft die Momente auch sind, im Verlauf der Jahre merke ich, dass sie sich wiederholen. Ich sitze an denselben Orten in der Sonne, wandere durch dieselben warmen Straßen mit denselben zufriedenen Gedanken, denselben glücklichen Leuten um mich herum.

 
Manchmal überkommt mich im Sommer diese seltsame Melancholie. Weil ich merke, wie schnell die Zeit verrinnt und dass sich wenig wirklich ändert. Vielleicht wäre es Zeit für etwas Neues. Endlich das verwirklichen, wovon ich träume, wenn das Gras mich an den Füßen kitzelt und ich mein Gesicht dem Licht entgegenstrecke. Die langen Tage nutzen, um große Pläne zu realisieren. Handeln statt Momente auszudehnen. Kreativ sein statt nur dazusitzen und zu tanzen.

 
Im Sommer überkommt mich das Gefühl, die stehen gebliebene Zeit im richtigen Augenblick ergreifen zu müssen, weil sie vorbeizieht wie ein rasender Zug. Träume in Realität verwandeln, weil das belanglose Träumen unter wolkenlosem Himmel mir die Kraft schenkt, Träume zu verwirklichen. Ein Paradox. Savinda sagte mal, Zeit sei eine Illusion. Vielleicht entblößt sich der Charakter ihres Scheins in der Verrücktheit, die Zeit im Sommer zu spielen scheint.

Donnerstag, 17. Juli 2014

Streifzug Kim: Und der Ball rollt ins Netz


Schon lange habe ich nicht mehr so viele Menschen weinen sehen, wie in den letzten paar Wochen. Mal waren es Freudentränen, mal Sturzbäche der Enttäuschung, manchmal aufrichtige, bodenlose Verzweiflung die einem das Herz zerschnitt. Gleiches gilt für Freude und Jubel. Springende Menschen die sich in die Arme fallen, Entzückungsschreie, fassungsloses Staunen vor Entzückung. Selbst die sonst so lässig-gleichgültigen Gesichtsausdrücke der Berliner sind wie verzaubert. Dabei ist es nur ein kleiner Ball, der ins Tor rollt. 


Die Fußball-WM verwandelt die Welt um mich herum, so viel steht fest.

Abgesehen von dem Mehr an öffentlich ausgedrückten Gefühlen im sonst so emotionslosen Alltagsleben, das man in Berlin normalerweise mit bewusst ausdrucksloser Mine durchschreitet - eine Mine auf die man hier sehr stolz ist und die sich selbst durch Nachrichten von katastrophalsten Kriegsgeschehen und Naturkatastrophen im Berliner Fenster höchstens durch ein kurzes Stirnrunzeln erschüttern lässt - abgesehen davon gibt es plötzlich auch ein Gesprächsthema, dass sich durch alle Sphären der Stadt zieht. 


Ob in nächtlichen U-Bahnschächten, tags an der Straße des 17. Juli oder in den Vorlesungssälen der Uni, überall wird das letzte Tor von Müller und die Flanke von Schweini kommentiert. 
Normalerweise ist es schon eine Herausforderung, bei Familienbesuchen ein Thema zu finden, das fünf Leute am Tisch halbwechs interessiert – jetzt liefert jedes neue Deutschlandspiel Gesprächsstoff für ganze Nächte. 
Wie eine eigenartige Seuche hat sich die Präsenz der Weltmeisterschaft unsichtbar in der Stadt ausgebreitet und alle infiziert. 
Selbst diejenigen, die sich explizit als Anti beschreiben, selbst die lassen es sich nicht nehmen, bei beliebiger Gelegenheit das Thema Fußball anzuschneiden, um die Gründe für ihre Anti-Haltung mit der größten Inbrunst politischer Überzeugung darzulegen. 


Meine Freundin Ginny zählt zu diesen Menschen. 
„Ich kann den Fussball-Hype so was von gar nicht verstehen“, betont sie und schaut mit geringschätzigem Blick einem Mann hinterher, der sich von oben bis unten mit einem rot-weiß-gold gestreiften Samtstoff verhüllt hat.

Wir sitzen in einem Cafè am Mehringdamm in Kreuzberg. 

Oscar lauscht wie gebannt dem Moderator aus einem der Fernsehbildschirme um uns herum. Das muntere Geplapper vermischt sich mit dem Lärm der vorbeirauschenden Autos. 
Neben ihm beobachtet Savinda eine Gruppe Halbwüchsiger, die singend vorbeiziehen.

„Deutschlaand, Deutschlaand….“



Ginny funkelt verärgert ihren wehenden Fahnen hinterher. „Echt, wenn die sich mal für irgendwas anderes so einsetzen würden wie für Fußball. Diese ganzen Massen… Die Welt wäre dann so was von anders!“

Oscar wirft ihr einen kurzen, spöttischen Blick zu. „Und für was sollten sie sich bitte einsetzen?“


„Keine Ahnung, könnte ja wohl alles sein, was in der Welt verdammt noch mal scheiße läuft.“ Sie klopft mit ihrer Mateflasche auf den Tisch. „Flüchtlingsrechte zum Beispiel.“

„Ach ja, und bei dem Thema wären sich alle einig, für was man auf die Straße gehen sollte, ja?“ 
Oscar starrt wieder auf den Fernseher, auf dem jetzt ein Meer aus Deutschlandfahnen zu sehen ist. Von nackten Armen werden sie in die Höhe geschwenkt. 

 
„Armutseinwanderung, Sozialschmarotzer, Wachstumgsgefahr… die Debatten gibt’s alle nicht, oder wie? Nö, alles sind sich einig, dass man für mehr Flüchtlingsrechte kämpfen sollte. Tzz.“ 
Er pfeift durch die Zähne. „Wenn die Leute anfangen würden, sich darüber einer Meinung zu sein, für was man kämpfen sollte, dann wäre die Welt sowieso anders.“

Ich sehe meinen Freund interessiert an. „Meinst du, deshalb sind alle so begeistert vom Fußball? Weil es eine Sache ist, in der es keine“, ich suche kurz nach dem richtigen Wort, „moralischen Konflikte gibt?“


Ginny beginnt, laut zu husten.

„Kann sein. Auf jeden Fall ist es heutzutage das einzige, das alle irgendwie zusammenhält, oder?“


Ich muss eine Weile über Oscars Worte nachdenken. Tatsächlich ist es doch faszinierend, dass diese Weltmeisterschaft so viele Menschen berührt. 

Ich schaue ein paar Mädchen mit grell blondierten Haaren hinterher, die im Chor „Schalalalala“ gröhlen. 
Zwei ältere Damen mit Plüschhüten in Deutschlandfarben auf dem Kopf schlendern vorbei. 
Ein flanierendes Paar in Krawatte und Stöckelschuhen bleibt stehen und späht auf den Fernsehbildschirm. 
So verschiedene Menschen aus den verwegensten und verwinkelsten Ecken der Gesellschaft, und alle fiebern sie mit. Nur weil ein paar Spieler ein Spielchen spielen. 
Was ist es, das uns alle an der Weltmeisterschaft begeistert? Oder sind wir deshalb so begeistert, weil sie alle bewegt? 


Was sonst reist so viele Menschen mit? 
Schulunterricht fällt aus, Arbeitszeit wird abgesagt, bloß weil irgendein Halbfinale stattfindet. In der Bar am Kottbusser Tor gibt es Umsonst-Shots für alle, wenn Deutschland ein Tor schießt. 
Die gewöhnlichen Regeln des Alltags werden für kurze Zeit ausgesetzt und durch Spielregeln ersetzt.

Nicht nur in dieser Stadt, sondern in weiten Teilen auf der Welt!



„Wir leben in the Postmoderne“, hat mein Künstlerfreund Dave neulich gesagt, „where everything goes. Alles driftet auseinander. Glauben, Religion, Lebenskonzepte, Vorstellungen… Jeder lebt in seiner eigenen Welt.“

Vielleicht hat Dave Recht – ist Fußball deshalb so populär? 

Weil es das einzige übriggebliebene Teilchen ist im zerrüttelten Mosaik der globalisierten Welt, das alle irgendwie verbindet? 
Ein Symbol, an das wir uns inmitten unserer individualisierten, postmodernen Einsamkeit festklammern?

Aber wieso? Wieso gerade diese Sportweltmeisterschaft? 
Weil Fußball so einfach ist? Ein Ball, ein Tor und klare Regeln. Ein Gewinner und ein Verlierer. 
Es gibt weder moralische Debatten noch aufeinanderprallende Überzeugungen um die man streiten muss. 
Das Konzept ist gesetzt und unverwüstlich, wie ein gottgegebenes Gesetz, an das alle glauben.


„Als ob das so wäre“, brummt Ginny und reißt mich aus meinen Gedanken. „Als ob es beim Fußball nicht um Moral und Politik gehen würde – das wird doch bloß verdrängt. Habt ihr die ganzen Proteste nicht gesehen, in Brasilien, wo die Menschen auf die Straße gehen, weil Millionen in neue Fußballstadien gesteckt werden statt in Krankenversorgung für die Leute in den Vawelas?“


„Das ist traurig“, nickt Savinda betrübt.



„Und trotzdem siehst sogar du dir die Fußballspiele an!“ Ginny wirft ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. „Dabei sollte man die Spiele boykottieren!“ Sie dreht dem Fernseher neben ihr demonstrativ den Rücken zu, ein nicht besonders erfolgreich Unterfangen, weil sie sich damit gleich zum nächsten Bildschirm gegenüber wendet.



„Aber es ist einfach so schön, wenn alle Menschen sich gemeinsam freuen.“ Savinda hebt entschuldigend die Arme, sein gelber Umhang flattert im Wind. „Dieser Jubel, der alle vereint. Egal, wer um einen herum ist, in dem Moment, in dem der Ball ins Tor schießt – da freuen sich alle zusammen. Plötzlich gibt es keine Trennung mehr.“ Savindas Augen blitzen. „Zwischen meiner und deiner Freude, verstehst du?“


Eine feine Gänsehaut kribbelt mir über den Arm. Wahrscheinlich hat Savinda Recht. 
Es ist ein schönes Gefühl, sich mit so vielen Menschen zusammen über eine Sache zu freuen. Aufzugehen in der geteilten Euphorie einer Masse. Teil von etwas Großem zu sein. 
Auch wenn es nur wegen eines kleinen Balles in einem Netz ist. 
Wahrscheinlich ist der Auslöser für dieses Massenphänomen wirklich egal,  der Ball ist eine Metapher. 
Was zählt, ist das Gefühl der reinen, kollektiven Freude im Moment des Jubels. 


„Aber es wäre doch so viel besser, sich über irgendetwas anderes zu freuen.“ Ginny lässt nicht locker. „Warum gerade über die Herren-Fußball-Weltmeisterschaft? Ein primitives Spiel? Da geht’s doch um nichts! Warum ist es plötzlich wichtig, wer so ein bescheuertes Spiel gewinnt?“


„Du denkst viel zu rational, Ginny“, meint Savinda streng. 
„Es geht nicht um Sinn und Zweck. Glaub mir, in dem Moment, in dem dieser Löwe“ (er deutet auf den Fernsehbildschirm, wo ein Mann im Anzug entzückt die Fäuste in die Luft schlägt) „in dem der sich so freut, da geht es nicht ums Geld oder um seinen Beruf oder die Angst, ihn zu verlieren, wenn seine Mannschaft nicht gut spielt. Zukunftsgedanken spielen da gar keine Rolle mehr.“ 
Savinda schüttelt bedeutungsvoll den Kopf, seie lagen grauen Haare fliegen hin und her. 
„Es geht um den Augenblick. Das, was in dem Moment passiert, das kannst du nicht mit der üblichen Mittel-Zweck-Logik erklären.“ 
Savinda lächelt begeistert in sich hinein. „Das ist ja das Tolle.“ Er schlürft an seinem Mango Lassi Getränk und murmelt dabei schmatzend: „Fußball erinnert uns daran, dass es noch eine andere Logik gibt als die, die wir im Alltag kennen.“


„Trotzdem“, beharrt Ginny eindringlich, „dieser ganze Nationalismus! Leute, die plötzlich Deutschland gröhlen, das ist doch scheiße! Das kannst du doch nicht einfach ausblenden.“

Im Fernsehen wird eine Gruppe von Männern mit Bierflaschen in der Hand gezeigt, die sich Deutschland auf die Stirn gepinselt haben. Der eine brüllt mit hochrotem Kopf: „So sehen Sieger aus, Schalalalala...“


„Mit solchen Asis zusammen will ich mich überhaupt nicht freuen. Und dieser aufflammende Nationalismus macht mir Angst. Gerade bei der Deutschen Vergangenheit!“


„Mann, Ginny – wieso sitzt du überhaupt hier, wenn du alles so scheiße findest“, sagt Oscar genervt. „Wehe, du machst das auch während dem Spiel….“

„Was soll in denn sonst um diese Uhrzeit machen“, meint Ginny beleidigt – „alle schauen Fussball, überall. Es gibt kein Entkommen. Wisst ihr was – ich wette, die Leute würden den ganzen Hype gar nicht mitmachen, wenn sie nicht ständig dazu genötigt würden. Ich sage euch, wenn plötzlich überall – der Schutz des Regenwaldes, oder irgend so was – wenn es da plötzlich Songs und Werbung und den ganzen Scheiß gäbe, da würden alle genauso drauf abgehen! Das ist alles Manipulation von oben!“ 
Sie schnipst in die Finger, wie um ihre Worte geräuschvoll zu untermalen. „Die Leute wollen, dass wir uns für Fußball interessieren, damit wir die wichtigen Sachen vergessen. Und wir machen alle mit! Und produzieren dazu noch mehr Nationalismus, als gäbe es davon nicht schon genug.“


„Na und“, sagt Oscar, „so ist das eben. Der Mensch ist nationalistisch. Wir brauchen was, mit dem wir uns identifizieren. Familie, Ethnie, Nation - so ist das eben. Wieso versuchst du eigentlich ständig, die Natur des Menschen zu ändern? Sei doch froh, dass der Nationalismus beim Fußball so friedlich ausgetragen wird. Nicht wie im Irak, wo die Menschen sich wegen so was die Köpfe einschlagen.“


Savinda schüttelt heftig den Kopf. „Es gehört sicher nicht zur Natur des Menschen, sich mit einer bestimmten Gruppe zu identifizieren. Da muss ich Ginny aber Recht geben.“

„Da glaube ich aber schon“, meint Oscar.

„Aber nein. Das ist alles Illusion. Künstliche Trennung in unseren Köpfen!“ Savinda stößt einen Seufzer aus. 
„Diese ganze Weltmeisterschaft zeigt doch, was für ein großes Potential in unserer Welt steckt. Möglichkeiten der Verbindung von Menschen! Etwas neues Erleben, das nicht unserer normalen Logik entspricht.“ 
Sein Gesicht erhellt sich. „Stellt euch vor, das gäbe es irgendwann auch unabhängig vom Fußball. Ohne Trennung zwischen Nationen, ohne Anlass durch gesetzte Regeln von diesem Fpfiffa-Verein.“


„Fifa“, knurrt Ginny.


Das Spiel beginnt. Am Ende jubeln wir und in dem Moment, in dem die ganze Straße aufschreit, in dem mir der unbekannte alte Mann neben mir glücklich auf die Schultern klopft und Oscar kleine Sprünge macht, in dem Moment wo mein Herz rast und mich grenzenlose Freude durchströmt, obwohl mir dieser Ball im Tor doch eigentlich egal ist, da wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass ich diesen Augenblick festhalten kann. Ich will die Zeit, die plötzlich still steht festhalten, einfangen, um irgendwann wieder eine Prise davon zu verteilen. 
In überfüllten U-Bahnhöfen am Morgen oder den Warteräumen vor dem Jobcenter. Ich verspüre eine tiefe Sehnsucht danach, dass das, was Savinda sagt, wahr wird. Dass es Momente wie diese auch ohne Fußball gibt. 
Wieso kann die Welt nicht immer so sein, wie wenn der Ball ins Tor rollt? 





Mittwoch, 2. Oktober 2013

Kommentar Kim: Über die Komplexität der Welt

Wenn ich versuche, den Zeitgeist in dem ich gerade lebe zu beschreiben, so würde ich ihn mit dem Wort Komplexität wohl am besten fassen. Wir Menschen, so scheint es, stehen an der Spitze unserer Entwicklung und müssen gleichzeitig mit der Unmöglichkeit kämpfen, all die Erkenntnisse unserer Zeit zu verarbeiten und mit ihnen zu leben.
Die Naturwissenschaften haben uns durch die Entwicklung von Technik und durch die Ergebnisse ihrer Untersuchungen ein unüberschaubares Maß an Wissen ermöglicht, zu dem wir theoretisch alle Zugang haben.
Wir leben im Zeitalter der Globalisierung, die viele kleine Teile miteinder vernetzt. Durch Medien, Zeitung, Fernsehen, durch moderne Kommunikation, durch Internet und Telefon, durch Transportmöglichkeiten mit denen wir in kürzester Zeit um den Globus reisen können, durch all das können wir, so scheint es, die Welt überblicken. Die Welt im Großen und Ganzen sehen. 



Wir beobachten im Fernsehen die Gräultaten in Syrien, wir chatten mit Freunden in den USA, wir sehen Livestreams von Demonstrationen in Istanbul. Wir lesen, dass die Neurobiologie festgestellt hat, dass es letztendlich keine freien Gedanken und Ideen gibt, denn alle geistigen Zustände basieren letztendlich auf chemischen Prozessen im Gehirn. Wir hören von der Wirtschaftskrise, von Krieg und Hunger, wir lesen, dass das Universum 12 Milliarden Jahre alt ist und der Mensch nur einen minimalen Augenblick davon existiert. Auf der Straße begegnen uns die unterschiedlichsten Lebenskonzepte, Väter die Kinderwägen schieben, Karrierefrauen mit I-Phone am Ohr, Yogimeister die von Erleuchtung sprechen, Motzverkäufer vor dem Supermarkt. Man spricht von Werten wie Ehre, Religion und Freiheit und Selbstbestimmung. In der Schule lernen wir, dass der Mensch vom Affen abstammt und entscheiden zwischen Ethik und Religionsunterricht. Jeder beliebige Begriff, den wir bei Google eintippen, liefert uns in Sekundenschnelle eine Erklärung. Wir können so viel wissen und hören so viel.

Und ich bin ich ein Mensch mit einem Alltag in Berlin. Ich gehe zur Uni, ich treffe Freunde, ich blättere in Zeitschriften um mich über belanglosen Tratsch zu amüsieren. Ich schaue jeden Abend die Tagesschau, habe vage Pläne für die Zukunft, will einen Job mit Prestige und Geld verdienen, vielleicht eine Familie gründen, irgendwie die Welt verbessern. Ich stehe jeden Tag auf, trinke Fairtrade Kaffee und Biomilch aus Rücksicht auf meine Umwelt, ich kaufe Essen im Discounter um Geld zu sparen, ich sitze im Park und genieße die Sonne, ich treibe Sport um nicht zuzunehmen, ich diskutiere in der Uni über große Weltprobleme, ich schaue Filme über Israel und sehe mir im Kino Komödien an. Das ist meine Lebenswirklichkeit.



Die Welt, in der ich lebe, scheint sich irgendwie in zwei Extreme aufzuteilen. Es gibt die große Welt da draußen, mit dem Wissen der Naturwissenschaften, mit Kriegen und Debatten, der philosophischen Erkenntnis dass Gott tot und Sinn höchstens subjektiv ist. Und es gibt meinen kleinen Alltag, in dem mir wichtig ist, was ich heute Abend esse, ob ich auf einer Party jemanden kennen lerne, was ich morgens anziehe und wann ich die nächste Hausarbeit endlich abgeben kann.
Wie könnte man diese großen Extreme besser auffassen als mit dem Wort Komplexität?
Die Welt ist komplex und weil wir all das Wissen, zu dem wir irgendwie Zugang haben, nicht verarbeiten und unmöglich alles selbst verstehen können, verlassen wir uns auf die Worte von Experten. Experten haben die Eigenschaft, vermeintlich verworrene Dinge als bündige Fakten in abgeschlossenen Einheiten zu präsentieren. Die Wirtschaftskrise, der Klimawandel, die Wirkung vom Gehirn auf unsere geistigen Zustände, Kriegsberichte aus Afrika, die Entstehung des Universums. Überall liefern uns Experten scheinbar abgeschlossene und vollständige Erklärungen. 
Sobald man ein bisschen genauer hinsieht, erkennt man, dass die großen Fragen bleiben. Alle Theorien weisen Lücken auf – je komplizierter die Begriffe, desto verworrener die Bedeutungsmasse, auf die sie hinweisen. Letztendlich also viel Schall und Rauch. Der Klimawandel ist eigentlich nur ein Diskurs, Kriegsberichte stellen bloß subjektive Erfahrungen einzelner Reporter da, Statistiken basieren auf Stichproben geringer Anzahlen von Menschen, wir können bloß Korrelationen zwischen Emotionen und Gehirnströmen messen, die Evolutionstheorie weist Lücken im Sprung vom Affen zum Menschen auf, die Urknalltheorie basiert auf Grundannahmen die sich letztendlich nicht beweisen lassen, es gibt Placeboeffekte, Nahtoderfahrungen und Selbstheilungsprozesse die niemand versteht. 


Und auch mein eigenes kleines Leben ist komplex und widersprüchlich. Meine Persönlichkeit wandelt sich mit den Leuten, die ich treffe, ich sehe einen Film und ändere meine Meinung zum Fleischkonsum, ich will eigentlich Künstler sein und arbeite in einem Büro am Computer, wenn die Sonne scheint bin ich glücklich und zufrieden, wenn es grau wird und beginnt zu regnen werde ich trübsinnig und einsam, ich will eigentlich Familie aber doch frei und selbstständig sein, ich vermisse meine Mutter aber werde wütend, wenn wir zu lange telefonieren, mich inspiriert die Natur und ich bin ständig in der Stadt, ich weiß, dass Geld nicht glücklich macht und verfasse Bewerbungen für besser bezahlte Jobs.
Was soll das alles? Ich sehe diese Wirklichkeit, in der ich lebe, ich sitze hier und versuche, vor meinem inneren Auge ein Bild zu entwerfen von der Welt, in der ich bin. Angestrengt bemüht, der Tiefe meiner Gedanken zu folgen und ein klares Bild zu zeichnen rauscht die Zeit, und ich weiß schon, dass ich bald abschweifen werde, um mich anderen Dingen zuzuwenden, dem Sportkurs am Abend und dem Treffen mit meiner Freundin, unabhängig davon, ob ich mit meinen Überlegungen gerade weiterkomme oder nicht. In eben diesem Moment, jetzt also, in dem ich mir der Komplexität meiner Lebenswirklichkeit für einen Augenblick so klar bewusst bin, versuche ich, ganz scharf darüber nachzudenken, ob das alles irgendeinen Sinn ergen kann. Irgendeine Bedeutung, eine Erklärung, Begründung, etwas Höheres das mir all diese Widersprüche, dieses wirre Bild erklärt. Eine Antwort auf alle Fragen.
Natürlich finde ich keine Antwort. Ich habe keine plötzliche Gotteserfahrung, spüre keine Eingebung, keine mystische Kraft die mir irgendetwas sagt. Ich schaue aus dem Fenster, draußen scheint die Abendsonne und wirft ein warmes Licht gegen die Häuserwände. Ein schönes Bild, ein gutes Gefühl. Mir kommt ein neuer Gedanke. So unbefriedigend es ist, keine Antwort zu kennen, keinen Sinn zu sehen, keine Erklärung für diese unüberschaubaren Wirrungen, den vielen Rätseln der Natur und der Psyche – ist das nicht auch ein schöner Gedanke? Bei all dem Wirrsal; ist es nicht immerhin nett, zu wissen, dass selbst die großen Erklärungen begrenzt sind? Dass die Naturwissenschaften die Welt und uns Menschen nicht vollständig erklären können? Dass die Welt und wir Menschen in ihr komplex sind, rätselhaft und undurchschaubar... Lässt diese offene Lücke nicht auch Platz für eine offene Möglichkeit? 


Denn was wäre die Alternative? Ein vollständig erklärendes Weltbild das alle Fragen löst? Eine Welt in der es keine Fragen mehr gibt? Aber offene Fragen lassen Antworten offen. Das Denken der Möglichkeit also, dass es eine Bedeutung gibt, einen Sinn, der über all das hinaus geht was wir erkennen und der angesichts der ganzen Komplexität der Welt auch selbst so komplex und ungreifbar sein muss, dass ich ihn hier und jetzt mit meinem Verstand nicht begreifen kann. Die undurschaubare Rätselhaftigkeit der Welt erweckt in mir einen Funken von Hoffnung auf Sinn.

Mittwoch, 10. Juli 2013

Kommentar Ulli: Terror! Das lustige Rätselspiel

Wer bin ich? 

Vermummt in schwarze Tücher blicke ich düster von der Titelseite des Spiegels in die Welt, die ich am liebsten brennen sehen würde. Schwarz ist der Hintergrund des Titelbildes. Irgendetwas unbestimmtes scheine ich mit dem Islam zu tun zu haben.


http://madubesbrainpot.files.wordpress.com/2011/08/pissed_off_terrorist_by_wescoast1.jpg
Picture credit: http://blogs.jamaicans.com/yaadinfo/files/2011/07/Pissed_Off_Terrorist_by_Wescoast.jpg Quelle: http://madubesbrainpot.wordpress.com/

Genau!! Ich bins. Der Terrorist an- und für-sich und als solcher. Natürlich ein Islamist. Ein Schreckgespenst. Die größte Gefahr des 21. Jahrhunderts.
 

Damit habe ich es immerhin geschafft, den Sozialisten aus dem 20. Jahrhundert abzulösen.

Heutzutage fließt das Geld des Westens nicht mehr in Star Wars-Raketenabwehrprogramme um sich vor dem Ostblock zu schützen, sondern in die Kampfjets der „Operation Enduring Freedom“ zur Vernichtung des Terrorismus.

Oder – noch besser – in Drohnen, die von der gemütlichen Basis aus mit dem Joystick zu bedienen sind. Armchair Terrorbekämpfung, also sozusagen Computerspielen. Das fällt dann auch gar nicht so auf. (Oder zumindest hält sich der Protest in Grenzen, wenns ab und zu mal nen Falschen trifft, denn die eigenen Leute fühlen sich am Joystick ja wohl.)

http://chinamobiles.org/downloads/joystick_J8e.jpg


(Zum Glück fällt so etwas nicht in die Definition des Terrors, sonst müsste man ja alles nochmal neu überdenken.)

Doch zurück zu mir. 
Ich bin sicherlich kein sonderlich sympathischer Zeitgenosse und man sollte die Gefahr, die von mir ausgeht, nicht verharmlosen. Dennoch: Die Wahrscheinlichkeit, vom Blitz erschlagen zu werden, übersteigt diejenige, von mir erwischt zu werden, für die allermeisten Regionen der Welt wohl bei weitem. Also könnte man auch - statt in die Terrorbekämpfung - ein paar Milliarden mehr in Blitzableiter und ähnliches investieren, oder? Nein, das klingt irgendwie absurd. Blitze sind ja auch nicht überall in den Medien.



Irgendwie wird man also den Gedanken nicht los, dass sich hinter dem omnipräsenten Bild des Terroristen gewisse Interessen verbergen. Denn dadurch kann faktisch jede Aktion gerechtfertigt werden. Schließlich gibt es eins, das alle nicht wollen: Dass ich irgendwo an die Macht komme. Da ist sich die Weltgemeinschaft wenigstens mal so gut wie einig.

Beim Ostblock war sich der Westen auch einig. Das war schließlich auch ein 1984-Szenario. Ein Überwachungsstaat, in dem endlos Datenmaterial gesammelt und Gespräche mitgehört wurden.

http://euro-med.dk/billeder/billedersurveillance-2dcam-2d21.jpg
Quelle:http://euro-med.dk/?p=13077

Heute ist alles anders. Jetzt ist der Westen der Überwachungsstaat. 
Warum? Richtig: zur Terrorbekämpfung.





Dienstag, 9. Juli 2013

Streifzug Kim: Das Netz

Oscar hat sein Handy in die Tonne gekloppt.

 

Als wir uns an einem sonnigen Mittwochnachmittag mit Ginny und Herbert am Maibachufer zum Spazierengehen treffen, fallen mir sofort die glasigen Augen meines Freundes im Anzug auf, die voller Unruhe hin und her zucken. Während wir den sonnenbeleuchteten Landwehrkanal entlang schlendern bleibt er ständig stehen und blickt sich verstohlen um. Als Ginny ihr Handy aus der Tasche kramt, schreckt er unmerklich zusammen und beobachtet das alte Nokiamodell so argwöhnisch, als wäre es ein besonders gefährliches Ungeziefer.

Oscar, kann ich mir mal dein I-Phone ausliehen?”, fragt Ginny im Laufen, während wir uns nach einem freien Plätzchen auf der Wiese umschauen. “Ich will nachschauen wann später meine Bahn fährt...”
Oscar schüttelt den Kopf. “Ich hab mein I-Phone weggeschmissen.”
Was?” Ginny, Herbert und ich bleiben wie angewurzelt stehen.


Weggeschmissen? Dein teures Handy?”, ruft Herbert ungläubig. “Warum das denn?”
Habt ihr nicht von dieser ganzen Überwachungsgeschichte gehört? Snowden, NSA, Geheimdienste... Wir werden doch ausspioniert, die ganze Zeit!“ Oscar lässt resigniert die Schultern hängen und blinzelt ins grelle Sonnenlicht. „Das habt ihr ja wohl mitbekommen?“
Ginny, Herbert und ich nicken bekräftigend.
Ich kann das gar nicht fassen“, sagt Oscar verstört. „All unsere Technik wird überwacht. Handys, Emails, Facebook...“

Ginny zuckt trocken die Schultern. “Das sag ich doch schon immer, dass die verdammten Imperialisten versuchen, die ganze Welt zu kontrollieren. Der freiheitsliebende Westen – ja, ja – nur er selbst darf natürlich aushorchen und schnüffeln wie er will.”

Und du hast wirklich dein Handy weggeschmissen?”, frage ich ungläubig. Oscar ohne Handy finde ich etwa so schwer vorstellbar wie Ginny in Anzug und mit Aktentasche.

All unsere Daten werden abgefangen!” Oscar starrt mich eindringlich an; unter seinen Augen schimmern dunkle Ringe, so als hätte er einige Nächte lang sehr schlecht geschlafen. “Weisst du überhaupt, was das bedeutet? Ich bin doch die ganze Zeit mit meinem I-Phone verbunden, ich kommuniziere nur übers Internet! Also wird alles, was ich tue, an irgendeine Stelle in die Staaten weitergeleitet, die alles kontrolliert. Alles.” Er schaudert. “Das ist doch, das ist doch...” Ihm scheinen die Worte zu fehlen. “Das ist doch unvorstellbar. So kann man doch nicht leben!”


Mich wundert wirklich, dass dich das so überrascht”, meint Ginny. “Die ganze Welt tut so, als hätte sie geglaubt die Amis wären die großen Freiheitsschützer. Und obwohl alle ein bisschen empört sind, kuschen sie doch immernoch vor Obama. Niemand bietet Snowden Asyl an, niemand erwartet, dass sich wirklich etwas ändert. Was die USA und der Westen macht, das muss schon irgendwie okay sein.“ Sie fischt etwas Tabbak aus ihrer Tasche und dreht sich eine Zigarette. „Wenigstens gibt es ein paar wenige Länder, die sich nicht vom Westen einschüchtern lassen. Russland, Venezuela...“

Denen ist Überwachung natürlich ein totales Fremdwort“, sagt Oscar sarkastisch. „Man kann der gesamten Welt nicht mehr trauen.“

Herbert schnaubt. “Ich verstehe die ganze Aufregung überhaupt nicht. Was ist denn so schrecklich daran, wenn ein paar Emails oder Telefonate von diesen Geheimdiensten abgehört werden? Die wollen doch nur ihre Bürger beschützen. Wer nichts zu verstecken hat, der hat doch auch nichts zu befürchten.”

Ach ja”, fährt Ginny ihr verärgert an, “und wer hat die Macht zu bestimmen, wer verdächtig ist? Die Superweltpolizei oder was? Und die hat natürlich überhaupt kein Eigeninteresse, hä?”

Es geht doch darum, vor dem Terrorismus zu schützen! Ich werde lieber ein bisschen überwacht, als Angst haben zu müssen, auf dem Potsdamer Platz von einer Bombe in die Luft gejagt zu werden. Es ist mir ehrlich gesagt schnurzpiepegal wenn jemand, den ich gar nicht kenne, meine Emails liest. Da steht doch nichts Geheimes drin.”
Tss..” Ginny pfeift durch die Zähne.

Wir lassen uns auf der Wiese am Wasser nieder; Oscar inspiziert ein paar Zigarettenstummel im Gras, bevor er sich setzt.
Das mit dem Terrorismus ist doch nur ein billiger Trick um die ganze Spionage zu rechtfertigen”, sagt Ginny. „Angst wirkt eben bei den Leuten.”

Die Freiheit der Bürger ist das allerhöchste Gut”, murmelt Oscar und starrt aufs vorbeifließende Wasser des Landwehrkanals. “Sie ist mit allen Mitteln zu schützen. Alles, was wir tun, kann zurückverfolgt werden. Habt ihr euch das mal ausgemalt?“

Vor meinem inneren Auge taucht das Bild eines riesigen Spinnennetzes auf, dessen unsichtbare Fäden sich durch die ganze Welt gesponnen haben. Wer ist diese gigantische Spinne, die da spinnt? Und wer sind die Fliegen, die sie in ihr Netz wickelt? 


„Dann gibt es überall geheime Fäden und Netze, die wir nicht sehen?“, frage ich.

„Überall“, murmelt Oscar resigniert. „Die Welt ist nicht so, wie sie für uns aussieht.“

„Und wer ist die Spinne?“

„Was für eine Spinne?“, fragt Herbert irritiert.

„Die Supermächte“, sagt Ginny im selben Moment. Sie stößt Rauch aus ihrem Mund. „Die USA und der Westen, die versuchen, die ganze Welt zu kontrollieren.“

Die USA, der Westen?“ Frage mich und überlege, wen genau ich mir darunter vorstellen kann. Obama? Angela Merkel? „Und warum wollen die uns kontrollieren?“

„Weil sie Macht haben wollen, natürlich. Macht über die ganze Welt.“

„Dann ist es wirklich eine einzige riesige Spinne, die nach ihrem Plan ihr Netz wickelt?“

Nachdenklich starre ich aufs grünliche Wasser, das in der Sonne schimmert. „Meint ihr nicht, es sind vielleicht viele kleine Spinnen, die alle einen Teil vom Netz gesponnen haben? Ohne zu wissen, was die anderen tun? Was die großen Konsequenzen ihres eigenen kleinen Handelnds sind? Und plötzlich spannen sich die Fäden über die ganze Welt. Nur, niemand hat das eigenständig geplant. Niemand ist verantwortlich. Ich glaube, da hat sich ein System verselbstständigt.“

„Wie im Jobcenter“, wirft Herbert ein. „da macht auch jeder einen kleinen Teil der Arbeit und niemand hat den Gesamtüberblick.“

Auf jeden Fall kann ja niemand diese ganzen Datenmengen auswerten“, sagt Oscar. „Das sind ja viel zu viele. Vielleicht war es nicht von einem Menschen geplant, uns alle zu kontrollieren. Aber dass Leute theoreisch auf alle unsere Daten Zugriff haben und sie systematisch abhören, das ist doch fatal! Es geht ums Prinzip der Freiheit!”

Ginny nickt zustimmend. Big Brother is watching you. Wir sind nicht frei.”

Wirklich nie?”, frage ich und muss an meinen Freund Savinda denken, der weder ein Handy noch einen Computer hat. “Was ist denn, wenn man gar keine Technik benutzt? Im Wald zum Beispiel, da kann einen niemand überwachen, oder?”


Stimmt”, räumt Oscar ein, “es hängt natürlich alles an der Technik. Deshalb werde ich auch alles einstellen, was überwacht wird. Googlemail, Facebook, Twitter... das wird sehr hart.“ Seine Stimme bekommt einen leicht dramatischen Tonfall. „Ich werde von der ganzen Welt abgeschnitten sein. Meine Geschäftskunden, meine Kollegen, meine Freunde, Veranstaltungen… finito. Ich werde ein einsamer Mann werden.“

Also heißt das, wieder weg von der Technik?”, frage ich.
Oscar nickt. “Wieder weg von der Technik.”
Back to nature”, sagt Ginny halb scherzend, halb ernst.

Herbert wirft den beiden einen kopfschüttelnden Blick zu. “Als ob heute noch irgendetwas ohne Technik funktionieren würde. Das Jobcenter würde sofort zusammenbrechen ohne Computer und Internet, das kann ich euch aber sagen.”

Auf dem Heimweg muss ich daran denken, was Tante Herda neulich gesagt hat: die Welt ist aus den Fugen geraten. Vielleicht hat sie Recht. Zu Hause angekommen unterschreibe ich im Internet schnell noch eine Petition die verlangt, dass man Snowden Asyl gewährt. Eine Woche später hat sich Oscar ein neues I-Phone gekauft. Später machen zusammen mit Savinda einen langen Spaziergang durch den Wald.




Dienstag, 25. Juni 2013

Kurzstatement Ulli: Kommunikationsmuster - einfach mal rauszoomen?

Alltag:

Das ist so. Es muss so sein. Aber dies darf nicht sein. Das ginge ja auch gar nicht, die Strukturen lassen es nicht zu. Und das ist auch gut so, sonst gäbe es ja gar keine Anhaltspunkte mehr.

Nur, wenn ich genau das habe, kann es mir gut gehen. Ich habe schließlich eine genaue Vorstellung, wo es langgehen soll. Wenn mein Mitbewohner nicht endlich die Küche aufräumt, kann ich nicht zufrieden sein.
Nur, wenn das Gespräch so verläuft, wie es mir vorschwebt, ist es ein gutes Gespräch.
Ich höre nur halb zu, will ja auch selbst zum Zug kommen und zeigen, wie ich das alles sehe. Was der andere sagt, kommt mir irgendwie fremd vor. Ich weiß schon vorher, was ich selbst denke.

Solange die Politik so ist, wie sie ist, bin ich dagegen. Ich habe meine eigene Meinung. Ist nur schwer, sie mit anderen zu teilen, die nicht die selbe Meinung haben. Darum tue ich das auch nicht. Ich diskutiere am liebsten mit Freunden. Andere Sichtweisen sind mir fremd oder ich kenne sie gar nicht, man bleibt halt in seinen Kreisen.

Woher habe ich meine Überzeugungen?

Aus der Erfahrung, es hat sich bewährt. Und von anderen, die es auch so sehen. So sind schließlich auch die Normen und Gesetze, das hat Tradition oder es ist zumindest im Trend. Außerdem wusste ich das schon immer.

Und ich lese schließlich auch Zeitung. Und zwar nur objektive Zeitung, die meine politische Meinung vertritt. Und letztendlich ist das auch alles wissenschaftlich gedeckt. Studien besagen, dass es sich so verhält. Und Studien sind schließlich eine absolute Letztbegründung, wie auch immer sie entstanden sein mögen.

Die Wissenschaft hat das festgestellt und es ist von Experten bestätigt. Experten, die so ein kompliziertes abgegrenztes Feld beherrschen, dass ich ihr Fachchinesisch gar nicht verstehen kann. Das macht aber nichts, ich profitiere ja auch so von ihnen. Endlich gibt’s in diesen unsicheren Zeiten mal wieder eine absolute Wahrheit. An Gott glauben war gestern.
Zum Glück gibt es auch zu jedem Experten einen Gegenexperten, da kann ich mir dann den Passenden aussuchen. Entweder, ich lasse mir beweisen, dass der Euro und die ganze EU dem Untergang gewidmet ist oder aber, ich habe todsichere Belege für ewiges Wachstum. (Oder läuft das ja dann doch auf das selbe hinaus?)

Demokratie auf Sparflamme also. Für alles andere fehlt ja auch das Geld.
Lieber den vertrauen, die ein Dr. im Namen haben und es wirklich wissen und methodisch einwandfrei ausgebildet sind.
Die eigentliche Realität liegt nämlich immer hinter den Tatsachen, die ist so einem Otto Normalverbraucher wie mir gar nicht zugänglich. (Zum Beispiel ist das, was ich für meine Persönlichkeit halte, nur ein Haufen von Aktionspotentialen in meinem Gehirn.)

Manchmal kommt es mir aber irgendwie so vor, als dürfte man sich ab und zu ein bisschen Selbstvertrauen zuschreiben. Man könnte auch mal wieder auf seine unwissenschaftliche Intuition zurückgreifen und schauen, was für Muster sich immer wieder von neuem abspielen. Bei sich selbst und um sich herum. Was die ganze Zeit vor der eigenen Nase passiert, während man mit Gedanken Strukturen einzementiert und die Komplexität der Erfahrung in enge Modelle presst.
Warum ist das so? Es muss so sein.