Es ist stickig in der Bahn. Ich habe doch noch einen Sitzplatz
zwischen einer beleibten wasserstoffblonden Frau um die 40 samt ihrer
zahlreichen Einkaufstüten und einer älteren Dame gefunden. Das Berliner
Fenster, der Bildschirm im Abteil, verkündet die neusten
Bildzeitungsnews und flackert dabei alle paar Sekunden hellblau auf.
Trotzdem schaffe ich es, sie zu lesen: "Mila Kunis ist die heißeste Frau
der Welt", "Die ersten Siedler in Amerika waren Menschenfresser" und
"Gwyneth Paltrow empfiehlt: Blow-Job statt Ehe-Zoff". Trotzdem hat sich
anscheinend "Mario Balotelli von seiner Modell-Freundin getrennt".
Die beiden gegenüberliegenden Sitzreihen sind voll mit Menschen, so
als hätten sie sich zusammengesetzt um ein gemeinsames Gespräch zu
führen. Haben sie aber nicht. Sie nehmen die Nähe nur in Kauf, um bald
möglichst wieder an ihrem Ziel aussteigen zu können. Die meisten von
ihnen sind intensiv mit ihrem E-Book-Reader oder ihrem Smartphone
beschäftigt. Einige haben Kopfhörer im Ohr. So richtig scheint niemand
die ihn umgebenden Menschen wahrzunehmen, nur ein junger Mann liest
verstohlen das Buch seiner Sitznachbarin mit, dabei hat diese extra
einen undurchsichtigen Umschlag um den Einband gelegt, der es verbietet,
den Titel zu erkennen. In der Ecke sitzt ein Mädchen mit leuchtend
gefärbten Haaren, zerrissener Strumpfhose und Lederjacke. Der Boxer an
ihrer Hundeleine schnüffelt dem Mann im Anzug mit Krawatte neben ihr
unablässig an der Hose, was sie nicht weiter zu stören scheint. Den Mann
allerdings schon, aber nachdem er daran gescheitert ist, einen Ort für
sein Bein ausfindig zu machen, den der Hund nicht erreichen kann, ergibt
er sich in sein Schicksal.
Quietschend fährt die U-Bahn in die Bülowstraße ein. Viele Leute
steigen aus und einige ein. Unter ihnen ein älterer Mann. Er bewegt sich
langsam und steif und umklammert in der einen Hand einen zerknitterten
Kaffeebecher und in der anderen einen Stapel von Zeitungen. Wie immer,
wenn ein Obdachloser die U-Bahn betritt, werde ich leicht nervös. Mit
monotoner Stimme kämpft er gegen den Lärm der anfahrenden U-Bahn und
trägt seinen vorbereiteten Spruch vor: "Mein Name ist Markus, ich lebe
seit fünf Jahren auf der Straße und verkaufe die Motz. Die Motz ist das
Berliner Straßen-Magazin und kostet 1,20 Euro. Ich würde mich sehr
freuen, wenn Sie mir ein Exemplar abkaufen würden oder eine Spende für
die Nachtunterkunft für mich hätten. Ich wünsche Ihnen noch eine
angenehme Weiterfahrt."
Die Gesichter der Menschen verschließen sich. Wer kann, beugt sich
noch tiefer über sein Smartphone. Meine füllige Sitznachbarin unter
ihren Einkaufstüten entschließt sich, den Sprecher zu übertönen und
beginnt eine angeregte Unterhaltung mit ihrer Freundin über die neuen
Haarspangen von Bijou Brigitte. Alle anderen hüllen sich in Schweigen.
'Bemerken sie den Mann nicht oder wollen sie ihn nicht bemerken?', frage
ich mich. Auch ich blicke zu Boden. Markus scheint keine Reaktion zu
erwarten und beginnt sich langsam durch das Zugabteil zu schieben. Ich
schaue hoch. Er ist ausgerechnet vor mir stehen geblieben und schaut mir
direkt in die Augen. Der Moment zieht sich in die Länge. Ich halte den
Atem an. Gedanken schießen mir durch den Kopf.
'Warum schaut er gerade mich so an? Kann ich etwas dafür, dass er
hier steht? Daran bin ich doch nicht schuld. Ich könnte ihm ja etwas
geben. Aber dann müsste ich erstmal mein Portemonnaie herauskramen und
bis ich das finde... Und alle sitzen hier und schauen zu. Und ich muss
auch gleich aussteigen. Außerdem stinkt er ja bestialisch. Kann er sich
denn nicht waschen? Und was bringt es denn, wenn ich ihm Geld gebe? Am
Ende kauft er sich davon nur Drogen, so ausgemergelt, wie er aussieht.
Und manchmal gebe ich ja auch etwas, ich kann ja nicht jedem Geld geben,
er ist nicht der erste, der mich heute anbettelt. Und diese Zeitung
will ich wirklich nicht. Warum blickt er denn so teilnahmslos und
zugleich so unterwürfig? Kann er mir nicht normal gegenübertreten? Ich
bin doch auch nicht so anders als er, nur weil ich hier sitze.' Ich
werde auf einmal wütend auf Markus. Dass er mich in diese Situation
bringt, wo ich doch gleich zur Arbeit muss und mich wirklich mit anderen
Dingen auseinandersetzen muss. Markus schaut mich immer noch an. Ich
senke den Blick und schüttele leicht den Kopf. Als er langsam weiter
schlurft, atme ich auf.
"Widerlich", sagt nun die Blonde neben mir und verdreht die Augen.
Ihre Freundin kichert. "Ich meine, ich stehe auch jeden Morgen um sieben
auf und gehe arbeiten. Von nichts kommt nichts. Außerdem leben wir in
einem Sozialstaat, da sind alle versorgt. Jeder kann zum Amt gehen und
Geld bekommen, niemand hat einen Grund hier alle zu belästigen." Sie hat
beobachtet, wie ich den Mann abgewiesen habe und schaut jetzt nach
Anerkennung heischend zu mir. Ich werde rot und vergrabe mein Gesicht.
Die ältere Dame auf meiner anderen Seite, die das Haarspangen-Gespräch
vorher eher irritiert wahrgenommen hat, lächelt der Blonden aber
bekräftigend zu.
'Anscheinend kann Markus nicht zum Amt gehen,
warum auch immer.', denke ich und dann, 'Erstaunlich, dass eigentlich
überhaupt jemand anfängt über die Situation zu reden.'
Ich beobachte aus dem Augenwinkel, wie eine Frau Markus ein paar
Cent in den Becher wirft und dabei den gebotenen Sicherheitsabstand
einhält. Der Mann gegenüber zieht die Beine mit den polierten Schuhen
an, die er zwar nicht vor dem Hund retten konnte, aber immerhin vor
Markus' schlurfenden Füßen.
Plötzlich schaut er interessiert auf
und streckt dabei seine viel zu langen Beine wieder nach vorne, sodass
der Motz-Verkäufer ins Straucheln gerät. "Halt mal! Was steht da? Das
Musiktheater in Mitte soll geschlossen werden? Aber da habe ich doch
noch ein Wörtchen mitzureden. Warten Sie mal.", er greift Markus am Arm,
der ihn, erschrocken über die plötzliche Aufmerksamkeit, anstarrt.
"Ja, was halten denn Sie davon, meinen Sie nicht, wir sollten da etwas
tun?" Markus, der immernoch nicht ganz fassen kann, dass es da um ihn
geht, sagt schließlich: "Das tue ich doch."
"Stimmt richtig...
Höchste Zeit, dass die Leute mal etwas tun. Also, würden Sie mir so eine
Zeitung verkaufen? Das heißt, wo ist denn mein Portemonaie..."
Markus richtet sich auf einmal auf. "Ich schenk Ihnen eine. Aber jetzt
habe ich wirklich zu tun." Mit diesen Worten verlässt er am
Nollendorfplatz geschäftig die Bahn, fast ohne zu schlurfen.
Total gelungen!
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