Oscar hat sein Handy in
die Tonne gekloppt.
Als wir uns an einem
sonnigen Mittwochnachmittag mit Ginny und Herbert am Maibachufer zum
Spazierengehen treffen, fallen mir sofort die glasigen Augen meines
Freundes im Anzug auf, die voller Unruhe hin und her zucken. Während
wir den sonnenbeleuchteten Landwehrkanal entlang schlendern bleibt er
ständig stehen und blickt sich verstohlen um. Als Ginny ihr Handy
aus der Tasche kramt, schreckt er unmerklich zusammen und beobachtet
das alte Nokiamodell so argwöhnisch, als wäre es ein besonders
gefährliches Ungeziefer.
“Oscar, kann ich
mir mal dein I-Phone ausliehen?”, fragt Ginny im Laufen, während
wir uns nach einem freien Plätzchen auf der Wiese umschauen. “Ich
will nachschauen wann später meine Bahn fährt...”
Oscar schüttelt den Kopf.
“Ich hab mein I-Phone weggeschmissen.”
“
Was?” Ginny,
Herbert und ich bleiben wie angewurzelt stehen.
“Weggeschmissen?
Dein teures Handy?”, ruft Herbert ungläubig. “Warum das denn?”
“Habt ihr nicht
von dieser ganzen Überwachungsgeschichte gehört? Snowden, NSA,
Geheimdienste... Wir werden doch ausspioniert, die ganze Zeit!“
Oscar lässt resigniert die Schultern hängen und blinzelt ins grelle
Sonnenlicht. „Das habt ihr ja wohl mitbekommen?“
Ginny, Herbert und
ich nicken bekräftigend.
„Ich kann das gar
nicht fassen“, sagt Oscar verstört. „All unsere Technik wird
überwacht. Handys, Emails, Facebook...“
Ginny zuckt trocken die
Schultern. “Das sag ich doch schon immer, dass die verdammten
Imperialisten versuchen, die ganze Welt zu kontrollieren. Der
freiheitsliebende Westen – ja, ja – nur er selbst darf natürlich
aushorchen und schnüffeln wie er will.”
“Und du hast
wirklich dein Handy weggeschmissen?”, frage ich ungläubig. Oscar
ohne Handy finde ich etwa so schwer vorstellbar wie Ginny in Anzug
und mit Aktentasche.
„
All unsere Daten
werden abgefangen!” Oscar starrt mich eindringlich an; unter seinen
Augen schimmern dunkle Ringe, so als hätte er einige Nächte lang
sehr schlecht geschlafen. “Weisst du überhaupt, was das bedeutet?
Ich bin doch die ganze Zeit mit meinem I-Phone verbunden, ich
kommuniziere nur übers Internet! Also wird alles, was ich tue, an
irgendeine Stelle in die Staaten weitergeleitet, die alles
kontrolliert. Alles.” Er schaudert. “Das ist doch, das ist
doch...” Ihm scheinen die Worte zu fehlen. “Das ist doch
unvorstellbar. So kann man doch nicht leben!”
“Mich wundert
wirklich, dass dich das so überrascht”, meint Ginny. “Die ganze
Welt tut so, als hätte sie geglaubt die Amis wären die großen
Freiheitsschützer. Und obwohl alle ein bisschen empört sind,
kuschen sie doch immernoch vor Obama. Niemand bietet Snowden Asyl
an, niemand erwartet, dass sich wirklich etwas ändert. Was die USA
und der Westen macht, das muss schon irgendwie okay sein.“ Sie
fischt etwas Tabbak aus ihrer Tasche und dreht sich eine Zigarette.
„Wenigstens gibt es ein paar wenige Länder, die sich nicht vom
Westen einschüchtern lassen. Russland, Venezuela...“
„Denen ist
Überwachung natürlich ein totales Fremdwort“, sagt Oscar
sarkastisch. „Man kann der gesamten Welt nicht mehr trauen.“
Herbert schnaubt. “Ich
verstehe die ganze Aufregung überhaupt nicht. Was ist denn so
schrecklich daran, wenn ein paar Emails oder Telefonate von diesen
Geheimdiensten abgehört werden? Die wollen doch nur ihre Bürger
beschützen. Wer nichts zu verstecken hat, der hat doch auch nichts
zu befürchten.”
“Ach ja”, fährt
Ginny ihr verärgert an, “und wer hat die Macht zu bestimmen, wer
verdächtig ist? Die Superweltpolizei oder was? Und die hat natürlich
überhaupt kein Eigeninteresse, hä?”
“Es geht doch
darum, vor dem Terrorismus zu schützen! Ich werde lieber ein
bisschen überwacht, als Angst haben zu müssen, auf dem Potsdamer
Platz von einer Bombe in die Luft gejagt zu werden. Es ist mir
ehrlich gesagt schnurzpiepegal wenn jemand, den ich gar nicht kenne,
meine Emails liest. Da steht doch nichts Geheimes drin.”
“Tss..” Ginny
pfeift durch die Zähne.
Wir lassen uns auf der
Wiese am Wasser nieder; Oscar inspiziert ein paar Zigarettenstummel
im Gras, bevor er sich setzt.
“Das mit dem
Terrorismus ist doch nur ein billiger Trick um die ganze Spionage zu
rechtfertigen”, sagt Ginny. „Angst wirkt eben bei den Leuten.”
“Die Freiheit der
Bürger ist das allerhöchste Gut”, murmelt Oscar und starrt aufs
vorbeifließende Wasser des Landwehrkanals. “Sie ist mit allen
Mitteln zu schützen. Alles, was wir tun, kann zurückverfolgt
werden. Habt ihr euch das mal ausgemalt?“
Vor meinem inneren Auge
taucht das Bild eines riesigen Spinnennetzes auf, dessen unsichtbare
Fäden sich durch die ganze Welt gesponnen haben. Wer ist diese
gigantische Spinne, die da spinnt? Und wer sind die Fliegen, die sie
in ihr Netz wickelt?
„Dann gibt es überall
geheime Fäden und Netze, die wir nicht sehen?“, frage ich.
„Überall“, murmelt
Oscar resigniert. „Die Welt ist nicht so, wie sie für uns
aussieht.“
„Und wer ist die
Spinne?“
„Was für eine Spinne?“,
fragt Herbert irritiert.
„Die Supermächte“,
sagt Ginny im selben Moment. Sie stößt Rauch aus ihrem Mund. „Die
USA und der Westen, die versuchen, die ganze Welt zu kontrollieren.“
„Die USA, der
Westen?“ Frage mich und überlege, wen genau ich mir darunter
vorstellen kann. Obama? Angela Merkel? „Und warum wollen die uns
kontrollieren?“
„Weil sie Macht haben
wollen, natürlich. Macht über die ganze Welt.“
„Dann ist es wirklich
eine einzige riesige Spinne, die nach ihrem Plan ihr Netz wickelt?“
Nachdenklich starre ich
aufs grünliche Wasser, das in der Sonne schimmert. „Meint ihr
nicht, es sind vielleicht viele kleine Spinnen, die alle einen Teil
vom Netz gesponnen haben? Ohne zu wissen, was die anderen tun? Was
die großen Konsequenzen ihres eigenen kleinen Handelnds sind? Und
plötzlich spannen sich die Fäden über die ganze Welt. Nur, niemand
hat das eigenständig geplant. Niemand ist verantwortlich. Ich
glaube, da hat sich ein System verselbstständigt.“
„Wie im Jobcenter“,
wirft Herbert ein. „da macht auch jeder einen kleinen Teil der
Arbeit und niemand hat den Gesamtüberblick.“
„Auf jeden Fall
kann ja niemand diese ganzen Datenmengen auswerten“, sagt Oscar.
„Das sind ja viel zu viele. Vielleicht war es nicht von einem
Menschen geplant, uns alle zu kontrollieren. Aber dass Leute
theoreisch
auf alle unsere Daten Zugriff haben und sie systematisch abhören,
das ist doch fatal! Es geht ums Prinzip der Freiheit!”
Ginny nickt
zustimmend. “Big Brother is
watching you. Wir sind nicht frei.”
“
Wirklich nie?”,
frage ich und muss an meinen Freund Savinda denken, der weder ein
Handy noch einen Computer hat. “Was ist denn, wenn man gar keine
Technik benutzt? Im Wald zum Beispiel, da kann einen niemand
überwachen, oder?”
“Stimmt”, räumt
Oscar ein, “es hängt natürlich alles an der Technik. Deshalb
werde ich auch alles einstellen, was überwacht wird. Googlemail,
Facebook, Twitter... das wird sehr hart.“ Seine Stimme bekommt
einen leicht dramatischen Tonfall. „Ich werde von der ganzen Welt
abgeschnitten sein. Meine Geschäftskunden, meine Kollegen, meine
Freunde, Veranstaltungen… finito. Ich werde ein einsamer Mann
werden.“
„Also heißt das,
wieder weg von der Technik?”, frage ich.
Oscar nickt. “Wieder weg
von der Technik.”
“Back to nature”,
sagt Ginny halb scherzend, halb ernst.
Herbert wirft den beiden
einen kopfschüttelnden Blick zu. “Als ob heute noch irgendetwas
ohne Technik funktionieren würde. Das Jobcenter würde sofort
zusammenbrechen ohne Computer und Internet, das kann ich euch aber
sagen.”
Auf dem Heimweg muss ich
daran denken, was Tante Herda neulich gesagt hat: die Welt ist aus
den Fugen geraten. Vielleicht hat sie Recht. Zu Hause angekommen
unterschreibe ich im Internet schnell noch eine Petition die
verlangt, dass man Snowden Asyl gewährt. Eine Woche später hat
sich Oscar ein neues I-Phone gekauft. Später machen zusammen mit
Savinda einen langen Spaziergang durch den Wald.