Freitag, 26. September 2014

Kommentar Kim: Wenn die Welt nicht mehr schlummert


Verzweifelte Gesichter starren mir von meinem Laptopbildschirm entgegen. Menschen auf der Desktopoberfläche, deren hilflose Körperhaltung jene Angst ausdrückt, die sie im Moment des Fotoschusses verspürt haben müssen. Sie sind von vermummten Gestalten umzingelt.
Ein bisschen Scrollen, ein Foto mit Bierkrug – zehn Tipps zur Vorbereitung auf das Oktoberfest. Ewas weiter das Bild eines ausgemerzten Mannes, der auf einem Krankenbett liegt. Die Welt ist verrückt – wer das bestreitet, hat nie in vollem Bewusstsein seine Facebookchronik durchforscht.

 
 Ich stoße auf eine Onlinepetition gegen Folter, unterschreibe beim synchronen Öffnen einer Email im Posteingang. Oscar fragt, ob wir morgen ins Kino gehen; Gedanken an aktuelle Hollywoodblockbuster durchkreuzen die schauderhaften Folter-Assoziationswellen in meinem Kopf.
Spiegelonline konfrontiert mich mit dem verpixelten Foto eines Mannes, der laut Bildunterschrift gerade hingerichtet wurde. Mein Magen dreht sich um, ich klappe den Laptopbildschirm zu und eile in die Küche, um den morgendlichen Kaffee aufzusetzen.

 
Ärger über die unausgeräumte Spülmaschine verdrängt das unbehagliche Gefühl in der Magengrube das sich erst wieder beim Zähneputzen regt. Als hätte sich der bittere Geschmack der unausweichlichen Tatsache, dass in dieser Sekunde irgendwo auf der Welt Menschen Furcht und Schrecken leiden, in die scharfe Minzpasta gemischt. Man sollte sich gut überlegen, ob man vor dem ersten Kaffee aktuelles Weltgeschehen verfolgt.
 
Spätestens in der U-Bahn ist das Gefühl des Unwohlseins verschwunden; ob ich will oder nicht ärgere ich mich über den belebten Mann neben mir, der geräuschvoll seinen Döner verdrückt. Träge Gedanken kreisen zu dem Vortrag, den ich nachher halten muss und mein Magen rumort fast so schlimm wie eben, als ich das Bild des verpixelten Exekutierten entdeckt habe. Einen Moment lang blitzt die Frage in meinem Innern auf, wie es sich anfühlen muss, die Kehle durchgeschnitten zu bekommen. Das Berliner Fenster erlöst mich von meiner fürchterlichen Kurz-Tagesalpträumerei, mit der Mitteilung, dass Paris Hilton auf die Ananasdiät schwört. Immerhin denke ich nun ab frisches Obst.

 
Meine Freundin Ginny steigt in die U-Bahn, wir halten eine Runde Morgensmalltalk über Uniprofessoren und das graue Berliner Wetter. Kurz taucht auf dem Bildschirm an der Decke das selbe Bild der umzingelten Menschen auf, das schon auf Facebook stand und ganz unvorbereitet werde ich von einem unbekannten Schwall von Ohnmachtsgefühlen übermannt.
Ich höre nicht mehr, was Ginny sagt, weil mir für einen grauenhaften Moment vollkommen klar wird, dass es für unzählige Menschen kein Entkommen gibt von Leid und Schrecken. Ich dagegen habe das Glück, am richtigen Ort zu sein und mir Gedanken über Univorträge und Ananasdiäten machen zu dürfen.
 
Wieso ist die Welt so schrecklich? Ist sie das überhaupt – oder kommt sie mir gerade nur so vor, weil ich nach dem Aufstehen von grausigen Bildern überrannt wurde, die mein Weltbild verzerren?  Immerhin habe ich heute noch keinen Bericht von ganz normalen Menschen gelesen, die irgendwo am Frühstückstisch sitzen, einen Waldspaziergang machen, Bücher lesen oder ihre Kinder zur Schule fahren. Leute in Kambodscha und Australien und Japan und im Nachbarhaus, die ihr vollkommen friedliches Leben leben.

 
Böse war die Welt schon immer, sagt Ginny – zu allen Zeiten hab es Mord und Folter und Krankheit. Verrückt kommt uns das vor, weil wir jetzt per Knopfdruck ganz direkten Zugang zum Grauen haben, während unsere Alltagswelt in Friede, Freude, Eierkuchen schwelgt.
 
Gewalt gibt es also ständig, nur wenn ich Bilder und Berichte sehe, betrifft es mich plötzlich wie auf mysteriöse Weise und reißt mich aus lockerleichtem Alltagsgeplätscher. Dabei sterben seit Jahren Menschen in nordkoreanischen Arbeitslagern und ägyptischen Folterzentren. Doch lassen mich diese Fakten erschreckend kalt –im Gegensatz zum IS Terror oder Ebola. Weil ich damit durch meinen Computerbildschirm und das Berliner Fenster konfrontiert werde, Medien katapultieren erschreckende Realität mitten in meine heile Alltagswelt. Dann packt mich plötzlich ein Anfall von Mitgefühl, so stark fast, als wären es Freunde, die irgendwo da draußen leiden. Fast ist es, als würden die Zeitungen und Fernsehfilme unsichtbare Fäden spinnen, die mich mit diesen Menschen verbinden.

 
Wie also weiterleben, wenn einen die Gewissheit nicht mehr loslässt, dass Böses allgegenwärtig ist, an so vielen Orten auf der Welt?
 
Das Böse gab es immer, zu jeder Zeit, sagt Ginny. Im Mittelalter, im Nationalsozialismus und überall dazwischen. Die Welt erscheint uns böse, wenn wir von all dem Schrecken hören, der geschieht.
 
Vielleicht aber bewahrt uns das Hören und Sehen auch davor, die Augen zu verschließen. Es drängt zum Mitfühlen. Und plötzlich ist da Verbundenheit. Zu Menschen, die mir fremd sind, die irgendwo leiden auf der Welt.
 
Und zwischen dem unbehaglichem Magengrummeln, das mein morgendlich geruhsames Kaffeeritual zerstört, weil Bilder des Schreckens sich in meine belanglosen Gedanken zu Geschirrspülmaschinen und Univorträgen mischen, irgendwo da beginnt ein Drängen. Ein Flüstern, das nicht mehr ganz verstummt. Es wispert, dass ich die Augen nicht lange verschließen kann. Bilder sind unwiderruflich vorhanden. Sie rütteln eine schlummernde Welt auf. Und drängen zum Weiterdenken, auch wenn bei den Nachrichten der Sportteil beginnt.
 
Zum Nachdenken und Mitfühlen. Und zum Handeln gegen das Übel in der Welt, statt in Alltagsgepläscher zu versinken. Neben Kaffeetrinken und Vorträgen Verantwortung zu übernehmen, das Leid nicht hinnehmen, das überall geschieht. Bilder lassen nicht mehr los.
Kämpfen gegen das Böse, das immer schon da war und mir nur plötzlich ganz unmittelbar bewusst wird.

 
 
Alles Leben ist Leid, sagt mein Freund Savinda, und schafft es trotzdem irgendwie, fast immer heiter zu sein. Sein Rezept ist Mitgefühl. Vielleicht fange ich langsam an zu verstehen, was er damit meint.